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29. Dezember 2020
Grenzenloser Zufall
Sechstes Leben
Doch genau das tat ich und sollte niemals diesen Sohn haben. Der Arzt, der die Abtreibung durchführte, sah dem rauschebärtigen Alten auf der Krügerrand-Goldmünze nicht ähnlich. Er war ein noch junger, freundlicher Mann. Die Abtreibung selbst geschah unter Vollnarkose, die Schmerzen danach unterschieden sich nicht sehr von einer heftigen Menstruation.
Die tiefe Traurigkeit, die allumfassende Leere, schon. Ich fühlte mich fremd, abgetrennt vom eigenen Körper. Ich hatte mir einen Teil meiner selbst nehmen lassen.
Als zukünftige Biologin wusste ich, dass die Stimmung auch dem Hormonabsturz nach dem Eingriff geschuldet war, doch was nützte dieses Wissen – nichts. Ich war nicht ich.
Als Mika reinkam und fragte, ob ich einen Tee wolle, sie habe gerade Kuchen gebacken, musste ich weinen.
Kurz darauf weinten wir beide. Sie sogar noch heftiger als ich.
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt“, ich wurde sauer, „du spannst mir meinen Freund aus und beschwerst dich, dass ich von ihm schwanger war? Ihr könnt noch zehn Kinder haben.“ Sie wandte mir ihr tränenüberströmtes Gesicht zu: „Hans vielleicht, ich kann mit meinen vermurksten Eierstöcken keine Kinder kriegen, Ruth.“
Mit einem Kind hätte ich ihr für immer und ewig etwas voraus gehabt. Hans und ich wären Eltern geworden, nur wir zwei.
Ich beschwor Mika, Hans nichts von der Abtreibung zu sagen. Sie hielt sich daran. Körperlich erholte ich mich von dem Eingriff schnell, seelisch nicht. Ich hatte Mika alles erzählt, nur den Krügerrand weggelassen, mit dem ich das Leben meines ungeborenen Kindes verspielt hatte.
Ich reagierte wie immer, wenn mir alles zu viel wurde und vergrub mich in der Arbeit. War es früher Schulstoff gewesen, so nahm ich jetzt die Diplomarbeit in Angriff: Versuchsaufbau und -durchführung, Tabellen, Diagramme, kritische Auseinandersetzung mit den gewonnenen Ergebnissen, Zusammenfassung, das Literaturverzeichnis und – endlich, endlich – der Anhang mit den Rohdatensätzen. Zum Schluss die mündliche Prüfung, danach durfte ich mich Diplombiologin nennen.
Die Abtreibung und Hans in seinem Glück hatte ich in den letzten Monaten erfolgreich verdrängt, doch sobald es nichts mehr zu tun gab, kam alles zurück. Ich musste hier raus.
Warten, bis ich meine Lebensstellung gefunden hatte, ging nicht, denn ich wusste nicht, wie die aussehen sollte. Nur eins stand fest: Ich wollte weder für eine Pharma-Firma ins Labor noch die Höhe von Nitrateinträgen im Ackerboden erforschen oder Ähnliches.
Erstmal weg von Hans und Mika mit ihrer Zweier-Kiste. Ich holte mir den tip und die zitty, aber im Grunde brauchte ich keine neue WG, nur damit sich die alten Probleme wiederholten, als da waren; ein leergefressener Kühlschrank, Ebbe in der Gemeinschaftskasse, Müll, den außer mir keiner runterbrachte und Typen, die plötzlich am Frühstückstisch auftauchten und gleich ein paar Wochen blieben.
Jemand suchte einen Nachmieter für eine Einzimmerwohnung in der Samoastraße, Wedding. Ich ging hin. Die Wohnung im Seitenflügel, zweiter Stock, war billig und bot eine Duschkabine in der Küche. Außerdem war sie nur fünf Minuten vom U-Bahnhof Amrumer Straße entfernt. Ich unterschrieb den Mietvertrag.
Bei den Abschieds-Spaghetti für die WG saß ich mit einem Jungen aus Stuttgart in der Küche, der nach Berlin gezogen war, um dem Wehrdienst zu entgehen. Von den übrigen Mitbewohnern hielt es keiner für nötig, auf meine Einladung zu reagieren. Später kamen Mika und Hans von irgendwoher und setzten sich kurz dazu. Mein Ex-Freund tat, als wäre es ein Abend wie jeder andere.
Gegen Mitternacht saß nur noch ich mit der Rotweinflasche in der Küche. Da hörte ich Hans über den Flur Richtung Klo tappen und passte ihn ab.
„Na, froh, dass ich morgen weg bin?“
„Du bist betrunken Ruth.“
„Na und, ist schließlich mein letzter Abend! Wir waren mal acht Jahre zusammen, schon vergessen?“
„Aber jetzt sind wir es nicht mehr und ich muss pinkeln.“
Er schob mich zur Seite. Das wars.
Eine eigene Wohnung. Niemand, der sich über meinen Kühlschrank her machte, trotzdem war nichts drin, weil ich keine Lust hatte, einzukaufen. Die paar Teller immer abgewaschen. Keiner, der meine Zahnpasta benutzte. Niemand zum Reden, sei es auch nur zwischen Tür und Angel.
Ich hatte keine Freunde, es hatte immer nur Hans und die wechselnden Mitbewohner gegeben. Das Verhältnis zu meinen Eltern war denkbar schlecht, seit ich ihnen eröffnet hatte, nicht als Biologin arbeiten zu wollen.
„Das ganze Studium umsonst, all die Jahre! Da wärst du mit einer Lehre besser dran gewesen!“
Vielleicht hatten sie Recht. Unser Kontakt, noch nie sehr eng, beschränkte sich zunehmend auf wenige Feiertagszusammenkünfte, während ihre ganze Hoffnung nun auf meinem kleinen Bruder ruhte, der nach einem glanzlosen Abitur auf Vaters Drängen hin mit dem Jura- Studium begonnen hatte.
Was er nicht durchhielt. Eines Abends eröffnete er mir, dass er Jura geschmissen und auf Lehramt umgesattelt habe: Sport und Erdkunde. Eine Katastrophe für die Eltern.
Vater rief merkwürdigerweise an, kaum, dass Tobi sich in meinen sackleinenbespannten Stuhl von Ikea fallen ließ. Nie hatte ich meinen ehemaligen Vater brüllen hören. Es hagelte Vorwürfe ohne Ende; ich mit meinem fehlenden Lebensplan sei ein denkbar schlechtes Vorbild und schuld an allem. Was hätte ich nicht alles sagen, zu meiner Verteidigung anführen oder mich zumindest wehren müssen. Stattdessen blieb ich wie zu oft in meinem Leben sprachlos, knallte irgendwann den Hörer auf und holte Wein aus der Kammer. Mit Senfgläsern anstoßend versicherten wir uns unserer Geschwisterliebe. Als ich Stunden später nach dem Durchsteckschlüssel für die Haustür suchte, um Tobi raus zu lassen, knickten mir fast die Beine weg.
Da für mich kein beruflicher Werdegang in greifbarer Nähe lag, beließ ich es bei „Jobs“. Der nächste führte mich zur Komparserie. Drei Tage Dreh auf der Pfaueninsel, achtzig Mark am Tag. Das war okay. Viele Komparsen sehnten sich nach Entdeckung, überzeugt, dass ein Ausnahmetalent in ihnen steckte. Als ich gefragt wurde, ob ich den Satz hier, die Regie- Assistenz tippte auf ihr Klemmbrett, sagen könne, löste das keinen Freudentaumel aus. Ich kannte den Schauspieler mit der blau geäderten Säufernase, den ich nach dem „Schlösschen“ fragen sollte, im Gegensatz zu meinen Komparsen-Kollegen, gar nicht.
An den nächsten beiden Tagen hatten wir nicht mehr zu tun, als die Parkwege abzuschreiten, während hinter uns Pfauen durchs Bild liefen. Zum Leidwesen der Regie schlug kein einziger ein Rad.
Wir bekamen unser Geld auf die Hand und ich zusätzlich eine Visitenkarte von dem Menschen, der es auszahlte. Er würde gern mal was mit mir trinken gehen.
Woher er meine Nummer hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls rief er an. Wir trafen uns. Es wurde kein langer Abend, er müsse am nächsten Morgen früh raus, vier Uhr Drehbeginn.
So kamen wir zusammen, Martin und ich. Ich wunderte mich, wie wenig es mich berührte, mit ihm zu schlafen. Aber ich war ja auch nicht verliebt, ich war allein.
Äußerlich ähnelte mein neuer Freund mit seinen eins neunzig Hans überhaupt nicht, doch das ewige Gerede über Ideen und Projekte war mir vertraut. Wieder jemand, der in der Zukunft lebte und der Gegenwart vor allem den Wert beimaß, den sie für dieses „später“ hatte.
Ich arbeitete auch wieder in dem kleinen Zeitungsladen, den ich seit Schulzeiten kannte. Die siebzigjährige Besitzerin, seit kurzem verwitwet, wollte ihn abgeben. Am liebsten an mich. Sie verlangte nur einen geringen Teil der Einnahmen, um ihre Rente aufzubessern.
Meine Zusage entstand als Ergebnis eines Münzwurfs, obwohl ich nach der Abtreibung nie wieder eine Lebensentscheidung vom Fall einer Münze hatte abhängig machen wollen. Keine endgültige Entscheidung, beruhigte ich mich, nur eine vorläufige. Jederzeit aufhebbar.
Hätte der Pfennig mit „Bank deutscher Länder, 1949“ nach oben gelegen, hätte ich abgelehnt. Es hätte der alten Dame leidgetan und mir irgendwie auch.
Innerhalb eines Monats wäre der Laden verkauft worden, und die neuen Besitzer hätten angefangen, ihn zum Café umzubauen, so dass ich meinen Job los gewesen wäre.
Also, ab zur Job-Börse in Steglitz, wo eine Omnibus-Stewardess gesucht wurde. War mir neu, dass es so etwas gab. Dienstbeginn 5.30 Uhr auf dem Betriebsgelände der Firma. Wir arbeiteten im Zwei-Tage-Rhythmus, fuhren eine Stadt in Westdeutschland an, übernachteten dort und fuhren am darauffolgenden Morgen zurück. Zum Glück nicht so früh wie auf der Hinfahrt. Die Kleidervorschrift für mich als Stewardess lautete: Bluse, Rock und hohe Schuhe.
Schon am ersten Arbeitstag verbrühte ich mir den Unterarm, weil der Bus hinter Dreilinden eine enge Kurve über die Betonplatten fuhr, während ich heißes Wasser für Tee aus dem Boiler laufen ließ.
Die Transitstrecke mit strikter Geschwindigkeitsbegrenzung, ein dreistündiger Abstandshalter zum Rest der Republik, der jede Fahrt zu einer Reise werden ließ. An den Übergängen die Grenzer mit ihren mehr oder weniger versteinerten Mienen, je nachdem, welche politische Großwetterlage gerade zwischen den beiden Deutschlands vorherrschte. Einmal, als wir von München leer zurückfuhren, gaben sie sich total locker. Ich war baff. Es sollte sich wiederholen, aber nur, wenn keine Fahrgäste im Bus waren.
Ein gut bezahlter Job, der nichts verlangte, außer Getränke zu servieren, Würstchen heiß zu machen und gleichbleibende Freundlichkeit. Martin und ich sahen uns kaum, und unsere Beziehung kam zum Erliegen, bevor sie richtig begonnen hatte.
Ich musste früh aufstehen und war dauernd unterwegs. „On the road again“ und sei es nur bis Wessiland. Ein paar Feierabendbiere mit den Kollegen reichten mir. Ich brauchte keinen Freund. Dass ich mit einem Fahrer schlief, war ein Ausrutscher.
An einem meiner seltenen freien Tage lief ich bei einem Konzert im Quasimodo Martin über den Weg. Er schien hocherfreut. Eigentlich war er ein netter Typ.
Keine Woche später hatte ich meinen Job gekündigt und half ihm bei seinem ersten Kurzfilm. Ein schwieriges Unterfangen, weil Martin die Drehpläne immer wieder umwarf. An das von ihm selbst verfasste Drehbuch hielt er sich sowieso nicht. Nur so viel war sicher: Im Mittelpunkt stand ein arbeitsloser Mann mit einem kreuzlahmen Dackel. Für die Geschichte im Allgemeinen und die einzelnen Szenen im Besonderen entwickelte Martin laufend neue Ansätze.
Fürs große Kino hatte Berlin keine Bedeutung, zu kompliziert das Ganze, zu umständlich wegen der Grenze, zu teuer per Flugzeug.
Wir teilten die Arbeit auf. Martin lieferte die Ideen, ich schrieb sie nieder und erarbeitete ein Treatment. Darauf verfertigte er das Drehbuch, das wir gemeinsam umsetzten. Oder auch nicht, wenn er plötzlich an einer, seiner Meinung nach, besseren, weil geradezu „irren Story“ dran war.
Martin sah sich als Kopf unserer Unternehmungen und mich als seine rechte Hand. Von der Filmerei leben konnten wir natürlich nicht. Ich nahm allerlei Aushilfsjobs an, die ohne Umstände wieder gekündigt werden konnten, wenn wir das Geld für ein neues Projekt zusammen hatten. Er tat nichts dergleichen, um unseren Lebensunterhalt zu sichern. Er war Künstler.
Ich ließ ihn. Martin wurde zur Buße für die Abtreibung, zu meinem großen Kind, dem ich beruflich auf die Beine half, das ich nach Kräften unterstützte, dem ich alles verzieh.
Martins größtes Problem, er schaffte es einfach nicht, aus einer guten Idee eine gute Geschichte zu bauen. Irgendwo klemmte es immer, bekam er den Plot nicht in den Griff oder verlor sich in Monologen, zu denen ihm keine Bilder einfielen.
Der Durchbruch kam, als die Mauer fiel. An dem Donnerstag drehten wir gegen elf Uhr abends auf dem Kudamm. Unser Protagonist war ein echter Zirkusclown. „Was wie Chaplin in ‚Lichter der Großstadt‘ oder so“, schwebte Martin vor. Der Clown jonglierte lustlos mit seinen bunten Bällen. Er stand fast allein da. Es war ruhig am Kranzler-Eck und kaum Leute auf der Straße.
Zwei Stunden später dann die Hölle; Umarmungen, das Knattern der Zwei-Takter, rasch hervorgezauberte Nobelkarossen, Hupkonzerte ohne Ende. Menschen über Menschen. Singen und Tanzen. Die Grenze war offen und wir alle waren überwältigt vom Glück. Noch am Morgen unausdenkbar, ein Wunder, als wäre die Schwerkraft aufgehoben worden und man könnte fliegen. Genau das taten Ost- wie Westberliner, wir hoben ab.
Mit der Kamera zur richtigen Zeit am richtigen Ort; Freude, Jubel und mittendrin ein fassungsloser Clown, dem die Gesichtszüge entgleisten.
Mit diesem zufällig entstandenen, einzigartigen Filmdokument räumte mein Freund einen Preis nach dem anderen ab.
Endlich hatte er Erfolg. Der Zufall wurde zum festen Bestandteil seiner Filme. Es lief. Auch zwischen uns. Wir arbeiteten gut und gern zusammen. Für ein echtes Kind wäre kein Platz in dieser Art Leben. Ich wünschte mir auch keins von ihm.
Martin und ich blieben zusammen. Wie andere Kinderlose pflegten wir unseren Freundeskreis sehr intensiv. Ein Kreis wie ein Tanz in wechselnder Formation. Paare trennten sich, er blieb, sie musste gehen und wurde durch ein jüngeres Exemplar ersetzt. Spätestens, wenn die Männer vor ihrem fünfzigsten Geburtstag standen. Alte Männer wurden junge Väter. Unsere Freunde hatten Beziehungen zum Filmgeschäft, aber nicht die Bedeutung, welche sie vorgaben. Die eheliche Gemeinschaft führte die jungen Gespielinnen nicht auf die roten
Teppiche von Cannes oder Venedig, höchstens fanden sie sich bei den Internationalen Hofer Filmtagen wieder.
Als ausnahmsweise eine Frau aus unserem Kreis ihren Mann verließ, um mit einem jungen Portugiesen zu leben, gab es ein großes Gerede. Als sie gar mit sechsundvierzig ein Kind von ihm bekam, hörten die Schmähungen seitens der alten Freunde gar nicht mehr auf.
Mein Mann brachte es zu einer veritablen Filmographie, in der ich regelmäßig als Co-Autorin auftauchte. Als wir uns zunehmend auf Tierfilme verlegten, konnte ich mein Biologie- Studium sogar noch nutzen. Wir bekamen genügend Aufträge von Fernsehanstalten, aber an den Erfolg vom November ‘89 konnte Martin nie mehr anknüpfen.
Im Alter zogen wir in den Süden. Was sich als Fehler erwies. Mein Spanisch reichte nicht für ein tiefer gehendes Gespräch, ganz davon abgesehen, dass ich auch keinen Menschen wusste, mit dem ich es hätte führen wollen. Trotzdem überließ Martin mir allein die Verbindung zur Außenwelt. Er wachte über die üppig blühende Bougainvillea, die ihre Zweige über unsere Umfassungsmauer streckte und pflegte seinen Rasen, der in diesem trockenen Landstrich die Wasserrechnung in ungeahnte Höhen trieb. Martin wollte auf saftiges Grün gucken, wenn wir frühstückten, das sei gut für die Augen.
Ich beobachtete meinen älter und stiller werdenden Mann und dachte an mein verlorenes Kind. So wohnten wir unter Palmen und badeten im Meer, bis Martin starb.
Im Winter Zweitauseinunddreißig, der einem Sommer glich, kehrte ich nach Deutschland zurück. Ein fremdes Land empfing mich. Die Jugend kleidete sich einfarbig, und auf den Straßen war viel Militär.