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30. Dezember 2020

Grenzenloser Zufall

Siebentes Leben

Nein, ich verbrachte meinen Lebensabend nicht unter Palmen. Aber den Zeitungsladen übernahm ich auch nicht. Ohne Bedeutung der Münzwurf, denn plötzlich kam ein Neffe der alten Dame ins Spiel, der den Laden unbedingt haben wollte. Es war ihr sehr unangenehm, mir absagen zu müssen. Ich dagegen war erleichtert, mein „Münzding“ hatte sich erledigt,damit war ich durch. Fortan würde ich mein Leben nicht mehr dermaßen hirnrissig dem Zufall überlassen.

Doch was nun, wie weiter?
Die märchenhafte Lösung kam in Gestalt eines anwaltlichen Schreibens. Ich erbte. Eine kinderlose Schwester meines leiblichen Vaters hatte der Schlag getroffen. Ein Batzen Geld, einfach so, ich konnte es nicht fassen. Ich wusste nichts von meinem Vater und erfuhr auch nichts, außer, dass er eine Schwester gehabt hatte, die ich nun als einzig lebende Verwandte beerben durfte.
Ich könnte Jahre von dem Geld leben, ohne einen Finger zu rühren. Oder es sofort in sein Filmprojekt stecken, wovon mich Martin zu überzeugen suchte.
Als ich meine Mutter nach Geschwistern meines leiblichen Vaters fragte, behauptete sie, sich nicht mehr an seine Familienverhältnisse zu erinnern. So erzählte ich ihr auch nichts von dem Geldsegen. Tobi schon, und er bekam auch etwas ab.
Zu der Tante gehörte ein einbeiniger kriegsversehrter Lebensgefährte, der sich um das Geld betrogen fühlte. Erst forderte er schriftlich die Hälfte, da er die Tante gepflegt habe, dann brachte er ein Testament an, das sich umgehend als Fälschung erwies. Vielleicht hätte ich mit ihm geteilt, sicher sogar, wenn er seinen Brief nicht mit einer Beschimpfung begonnen hätte, indem er mich eine ganz gemeine Erbschleicherin nannte.

So viel Geld. Das meiste war fest angelegt, was ich änderte und die Hausbank dieser unbekannten Tante damit zur Verzweiflung brachte. Ich suchte mir eine neue Bank, die froh war, mein Geld überhaupt verwalten zu dürfen.

Martin ließ nicht locker: „Wir könnten ein professionelles Drehteam zusammenstellen. Eine echte Filmproduktion, besondere Locations. Mensch, Ruth, das wird ein ganz großer Film, glaub mir!“
„Ach, ja, und wie lautet die Story zu deinem ganz großen Film? Klingt doch alles sehr vage.“ Martin erklärte sich zum Meister der Improvisation und malte mir in glühenden Farben aus, zu welchen Werken er imstande sei, hätte er nur eine vernünftige Ausrüstung und gut ausgebildete Schauspieler an der Hand: „Leute, die verstehen, was du meinst, ohne dass du es aussprichst!“

Ich blieb skeptisch.
„Wir kennen uns doch erst ein paar Monate, soll ich das ganze Geld für dein unausgereiftes Projekt verschleudern?“
Nun war er richtig verletzt, aber ich setzte noch einen drauf, indem ich Hans anführte, meinen Ex, der auch immer vor Ideen gesprüht, sie aber selten umgesetzt hätte.
Martin stand auf und ging. Von da an herrschte Funkstille zwischen uns.
Ich konnte es mir nun leisten, Tag für Tag in Kneipen zu frühstücken, was ich anfangs auch tat. Aber sobald ich meine Wohnungstür wieder aufschloss, fühlte ich mich verlassener denn je.
In der Dunkelheit mied ich den Kiez und wich nach Schöneberg oder Charlottenburg aus, damit nicht auffiel, dass ich allabendlich am Tresen hing. Nie mehr als zwei Wein oder Hefeweizen, aber ich musste einfach unter Leuten sein.
Eines Nachts, ich hatte noch eine Stunde bis zur letzten U-Bahn, landete ich auf einen Absacker in der Kastanie und anschließend mit jemandem im Bett, der mich entfernt an Witte erinnerte.
Mit ihm hatte mich etwas verbunden, das mir kein anderer geben konnte und schon gar nicht dieser Fremde, wie ich ernüchtert feststellte, als der Morgen heraufdämmerte.
Kaum war der Typ verschwunden, rief ich Martin an, um mich wortreich zu entschuldigen und versprach, ihm fortan bei seinem Filmprojekt zu helfen. Er willigte ein und verzieh mir bald vollends, da ich unser beider Lebensunterhalt bestritt.
Dann wurde ich schwanger. Unregelmäßige Menstruation wie üblich, schließlich das Ausbleiben der Tage. Als ich endlich zum Arzt ging, war ich bereits im dritten Monat.
Eine zweite Abtreibung kam nicht infrage. Ich war sechsundzwanzig, mit dem Studium fertig und in halbwegs festen Händen, nichts sprach gegen Mutterfreuden. Doch die Freude beziehungsweise Vorfreude stellte sich nicht ein. Ich wollte kein Kind, nicht jetzt, und nicht von Martin. Ihm passte es auch nicht wegen des Films. Wir zogen trotzdem zusammen.
Als Niclas geboren wurde, war von Anfang an klar, dass ich mich kümmern musste. Martin hatte sein Projekt und bald auch eine bessere Hilfe als mich bei der Umsetzung. Eine Filmemacherin, gut im Geschäft und etwas älter als wir, die ihm unter die Arme, und wie ich bald feststellte, nicht nur dahin, griff.
So zog er nach knapp einem Jahr wieder aus. Unseren Sohn hatte er ohnehin nur beachtet, wenn er schrie und ich nicht in der Nähe war.
Also wieder allein. Warum dachte ich so, ich hatte doch Niclas! Wenn das Erbe für etwas gut war, dann für mein Kind.
Dessen Großmutter mir Vorwürfe machte, dass ich mich von Martin getrennt hatte.
„Der Kleine hätte doch wenigstens einen Vater gehabt!“
„Der fortlaufend seine Mutter betrügt.“
„Ach, Ruth.“
Die ganze Freude meiner Mutter und meines ehemaligen Vaters war Toby, der seine langjährige Freundin bald heiraten würde. Die Eltern verziehen ihm inzwischen sein Lehramtsstudium, weil sie sahen, wie glücklich er mit seiner Entscheidung war.

Mein Glück hätte mein Kind sein sollen, doch ich eignete mich nicht zur Vollzeitmutter, langweilte mich mit dem Kleinen und hatte Sehnsucht nach Erwachsenen. Martin kam selten und schließlich gar nicht mehr vorbei, um seinen Sohn zu sehen. Er lebte mit der Filmemacherin zusammen.
Ich war überzeugt, mein Kind allein großziehen zu müssen, als Jens auf der Bildfläche erschien. Ein guter Mann, ein paar Jahre jünger als ich, der sich immer eine Familie gewünscht hatte, aber keine Kinder zeugen konnte. Nach der Wende gingen wir in den Osten, wo ich mein Erbe in ein heruntergekommenes Gutshaus steckte, das von einem Park mit herrlichen alten Bäumen umgeben war. Mir war nie wohl gewesen mit all dem Geld, das ich nicht verdient hatte. Einen Teil des Hauses bauten wir zu Ferienwohnungen aus und kauften weitere aus der Umgebung hinzu. Das Geschäft lief gut, unsere Beziehung nicht ganz so gut, denn wir langweilten uns zunehmend miteinander. Als Niclas zum Studium nach Tübingen ging, trennten wir uns.
Vor zwölf Jahren bin ich nach Berlin zurückgezogen. Dort gehe ich mit den wenigen verbliebenen Freunden in Ausstellungen oder gut essen.
Ich könnte zufrieden sein, wäre da nicht diese unbändige Lust, das Schicksal ein letztes Mal herauszufordern und eine Münze zu werfen. Mir ist nämlich ein schwules Pärchen über den Weg gelaufen, das ein kleines, feines Feriendomizil auf einer Kykladen-Insel eröffnen will und gefragt hat, ob ich dabei bin…

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Datum:
30. Dezember 2020