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28. Dezember 2020

Grenzenloser Zufall

Fünftes Leben

Zum Glück musste ich Hans niemals in solch erbarmungswürdigem Zustand sehen, denn die zehn Pfennig lagen mit der Zahl nach oben, und damit war beschlossene Sache, dass ich mich Punkt zehn Uhr abends mit ihm vertragen würde.
Ich spielte mit den langen Fransen meines Flokatis, der die Matratze tagsüber in ein Sofa verwandelte und wartete. Ich wusste, Hans war gekommen, ich hatte seine Stimme auf dem Flur gehört. Als ich endlich an seine Tür klopfte, blieb alles ruhig. Ich drückte die Klinke herunter und spähte ins Zimmer. Es war leer. Ich lief in die Küche. Auch nichts. Scheiße! Wäre ich doch gleich zu ihm gegangen.

Aus Kneipen machte ich mir nicht viel, und in einer Disco war ich seit Jahren nicht mehr gewesen, aber hier sitzen und auf Hans warten kam nicht in Frage, und so zog ich ausnahmsweise mit meinen Mitbewohnern um die Häuser.
Wir landeten in der Roten Harfe am Heinrichplatz, eine dieser schummrigen, total verqualmten Saufhöhlen in Kreuzberg, wo sich Hausbesetzerszene, Anarchos und Studenten miteinander mischten.

Als ich spätnachts nach Hause kam, war Hans am Schreiben. Ich gab ihm einen Kuss. Er sah mich erstaunt an. Ich lächelte, er legte seine Blätter weg und zog mich auf seinen Schoß.
Ein paar Tage später zog Mika, Exfreundin eines Freundes von irgendwem, in eins der wieder einmal frei gewordenen WG-Zimmer ein. Die Art, wie mein Freund auf die neue Mitbewohnerin reagierte, verhieß nichts Gutes.

Sie wollten einander, aber es geschah nichts. Hans hatte begriffen, dass er mit einem erneuten „Seitensprung“, wenn man den überkommenen Begriff benutzen wollte, unsere Beziehung ernsthaft aufs Spiel setzte.
Anfangs war ich froh über seine Standhaftigkeit, aber bald lag eine derartige Spannung in der Luft, dass die gesamte WG es knistern hörte und mich zu bemitleiden begann.

„Ich muss mit dir reden, Hans.“
„Ja, ich wollte auch schon…“ Ich schnitt ihm das Wort ab.
„Wenn du mit ihr ins Bett willst, bitte. Nur spar dir diesen sehnsuchtsvollen Dackelblick, der verletzt mich mehr als alles andere.“

Er nickte. Ich wartete, aber es kam nichts mehr von ihm.
Ich konnte stolz auf mich sein. Ich hatte die Situation souverän gelöst. Sollte er ruhig mit Mika ins Bett gehen, danach käme er wieder zu sich, beziehungsweise zu mir. Trotzdem musste ich heulen, als ich allein war.
Ohne Frage schliefen sie noch in derselben Nacht miteinander, denn am Abend darauf teilte mir Hans mit, dass es aus sei zwischen uns. Er liebe Mika.
Wenn ich das neue Pärchen ansah, verstand ich, was er meinte. So war er nie zu mir gewesen. Wir beide waren bestenfalls eine Art nicht miteinander verwandte Geschwister, das hier war eine andere Dimension. Plötzlich musste ich an Witte denken, auch das war eine andere Dimension gewesen.
Es würde nicht gutgehen mit uns dreien, und ich war erleichtert, als die beiden zur Weinlese nach Frankreich aufbrachen.
Während einer Routine-Untersuchung bei meinem Frauenarzt, eröffnete mir dieser, dass ich schwanger sei. Ich hatte nie einen regelmäßigen Zyklus gehabt und achtete normalerweise nicht sonderlich darauf, wann, wie lange, und ob die Tage überhaupt kamen.
Ein Kind von Hans. Ich konnte ihn nicht erreichen, und bis er wieder aus Frankreich zurück war, würde es zu spät sein für eine Abtreibung. Alles ging durcheinander. Ich stellte mir vor, wie ich ihm sagte: „Du wirst Vater!“ und er sich auf der Stelle von Mika trennte, die ausziehen musste. Auch auf der Stelle. Nein, besser, Hans und ich würden ausziehen und endlich nur zu zweit sein. Vater, Mutter, Kind, glückliche Zeiten.
Unsinn.
Abtreibung oder Single-Mum? Ich fand abtreiben schrecklich, aber ich konnte mir unter keinen Umständen vorstellen, ein Kind allein großzuziehen.
Gedankenverloren spielte ich mit den Münzen in meinem Portemonnaie, ließ das kühle Metall durch die Finger gleiten. Nein! Nicht mein Münzding! Nicht hierbei! Das durfte ich nicht, das war Sünde, dafür würde ich in der Hölle schmoren, ob ich an sie glaubte oder nicht.
Ich kam zu keiner Entscheidung und musste doch eine treffen, oder ich ließ es, dann würde die Zeit entscheiden und ich das Kind auf jeden Fall kriegen müssen.
Es gab da eine echte Goldmünze, Stempelglanz, ein Geschenk meiner Großmutter zur Konfirmation. Der Krügerrand. Auf der Vorderseite die Büste eines gesetzten älteren Herrn mit Rauschebart. Der Namensgeber, ein südafrikanischer Politiker. Auf der Rückseite eine Springbock-Antilope, das Nationaltier Südafrikas. Sie sollte mir für das Leben stehen, für den Embryo. Der alte Mann stand für den Arzt, der es ihm nehmen würde, falls die Münze mit der Vorderseite nach oben lag.
Und das geschah.

Hätte sich der Springbock gezeigt, wäre ich im ersten Moment erleichtert gewesen. Ich hätte den Verstand ausschalten und an ein wie auch immer geartetes Schicksal glauben dürfen. Ich rief meine Mutter an, um es ihr zu sagen.
„Ach, Ruth.“

„Ist das alles, was dir dazu einfällt?“
Natürlich, sie wusste, was es bedeutete, ein Kind ohne Mann zu bekommen. Aber hätte sie sich nicht wenigstens ein bisschen freuen können?
Nach einem Monat kehrten Hans und Mika aus Frankreich zurück. Hatte ich bis dahin tief im Innern die Hoffnung gehegt, Hans würde sich zu mir bekennen, so wurde sie durch den Anblick dieser miteinander so glücklichen Menschen vollends zerstört.
Es war mein Kind. Das Baby brauchte keinen Vater, der eine andere als seine Mutter liebte. Ich sagte ihm nichts.
Weg hier, raus aus der WG, aber wohin? In eine neue WG wollte ich nicht. Was dann? Schwanger in eine heruntergekommene 1-Zimmer-Wohnung in Kreuzberg, ohne Bad, mit Ofenheizung – bloß nicht. Ich bat meine Eltern, bis nach der Geburt bei ihnen bleiben zu dürfen.

Das war also geklärt. Jahre nach meinem Auszug aus dem Elternhaus würde ich wieder in meinem alten Kinderzimmer wohnen. Bescheuert. Andererseits war Platz, Tobias verbrachte gerade ein Auslandsjahr in England, und es ging auch nur um die paar Monate, bis ich mich an meine Mutterrolle gewöhnt hätte.

Doch ich zögerte den Auszug hinaus, wollte plötzlich nicht kampflos das Feld räumen. Es war meine WG, ich war vor Mika dagewesen. Sollten die beiden doch ausziehen.
Ich wurde pausbäckiger und nahm rundherum zu, sodass der Bauch nicht auffiel. Aber eines Tages tat er es eben doch.

„Du bist schwanger, Ruth!“, rief Mika entgeistert, als sie ins Bad platzte, weil ich vergessen hatte zu verriegeln. Ich war die Einzige in der WG, die abschloss, wenn sie duschen ging. „Ja, von Hans.“
Was dann folgte, war totales Chaos. Reden, weinen, überlegen, was zu tun sei. Hans war schockiert. Mika heulte sich die Seele aus dem Leib.

„Ich zieh’s allein groß, musst keine Angst haben, dass ich euch auseinander bringen will.“ Sie war nicht zu beruhigen.
„Wenn hier Eine Grund zum Heulen hat, dann doch ich, oder?“
„Du wirst ein Kind bekommen!“

„Bist du jetzt völlig übergeschnappt“, blaffte ich sie an, „du spannst mir meinen Freund aus und beschwerst dich, dass ich von ihm schwanger bin? Ihr könnt noch zehn Kinder haben.“ Sie wandte mir ihr tränennasses Gesicht zu: „Hans vielleicht, ich kann keine Kinder kriegen, Ruth.“

Mikas Eierstöcke waren fehlgebildet, wie sie mir schluchzend erklärte.
Ich hatte ihr für immer und ewig etwas voraus. Plötzlich fühlte sich alles richtig an. Hans und ich waren nicht mehr zusammen, aber nach achtjähriger Beziehung unendlich vertraut miteinander. Ein Kind als krönender Abschluss. Ich trug es aus und er sollte Vater sein dürfen. Meine Großmut verdankte ich wahrscheinlich der mich freundlich stimmenden Hormonlage, begleitet von der allmählichen Erkenntnis, dass Mika nur etwas auseinander bringen konnte, was ohnehin lose zusammen hing.
Bevor das Kind kam, musste das Studium abgeschlossen sein, und dementsprechend hastig schrieb ich meine Diplomarbeit zusammen. Am 13. Mai 1981, einem Mittwoch, an dem ein türkischer Rechtsextremist Papst Johannes Paul II. auf dem Petersplatz in Rom erschoss, wurde ich Mutter. Als ich mein Diplom-Zeugnis in Empfang nahm, hatten sie im Vatikan gerade Giovanni Benelli, den Erzbischof von Florenz, zum neuen Papst gekürt.
Mika sah das Neugeborene kaum an. Auch der Rest der WG ließ sich nicht vom gewohnten Tagesablauf abbringen. Die wenigen Male konnte ich an einer Hand abzählen, als Hans aus der Küche, die nebenan lag, in mein Zimmer kam und den schreienden Säugling hochnahm, so dass ich erschöpft in die Kissen zurücksinken durfte.
Ich liebte mein Kind, aber ich war heillos überfordert. Die anderen gingen weg, ich saß zu Hause oder schob mit meinem Kinderwagen durchs Viertel. Das Baby ins Café mitnehmen, machte auch keinen Spaß, weil der Kleine extrem unruhig war. Sein Vater kümmerte sich wahlweise um sein bescheuertes Straßentheater oder seine große Liebe.
„So geht‘s nicht weiter, ich hab‘ momentan nicht die Kraft, mir eine neue WG zu suchen. Ihr müsst ausziehen.“
Sie sahen auch, dass sich etwas ändern musste, wollten das Problem jedoch mit der gesamten WG besprechen.
„Das geht doch nur uns etwas an, warum wollt ihr da die anderen mit reinziehen?“
„Wir wohnen hier zu acht und nicht zu dritt“, erwiderte Mika spitz.

Am Küchentisch wurde beschlossen, dass ich ausziehen müsse. Die WG empfand das Babygeschrei als nervig, Mika konnte mich und das Kind ihres Lovers schlicht nicht mehr ertragen, und Hans, wie ich enttäuscht feststellte, war auch nicht auf meiner Seite.
„Um den Kleinen kümmre ich mich natürlich weiter!“

„Ja, so intensiv wie in den letzten Monaten, nämlich gar nicht!“, fuhr ich ihn an.
Die WG war mir plötzlich zuwider. Selbsternannte Weltverbesserer, die sich das Mitleid mit den Armen in Afrika und den Geknechteten in Nicaragua auf die Fahnen schrieben, während sie mich mit meinem Baby hängen ließen, uns rauswarfen, weil wir ihre Ruhe störten.
Als unser Sohn zwei Jahr alt war, verließen Hans und Mika Berlin Richtung Frankfurt. Hans und ich blieben wegen des Kindes in loser Verbindung, sahen uns sporadisch.
Nach wechselnden Beziehungen landete ich kurz vor meinem vierzigsten Geburtstag doch noch unter der „Haube“, worüber sich Mutter unglaublich freute. Ein Kollege, geschieden und aus der Mikrobiologie, wie ich. Wir hatten uns in der Uni kennengelernt, wohin ich zurückgekehrt war, um zu promovieren.
Die Dinge fügten sich, kein Unglück trübte unsere Tage. Mein Sohn überragt mich bereits und wird in nicht allzu ferner Zeit aus dem Haus gehen. Wenn ich ihn so ansehe, kann ich nicht glauben, dass ich jemals in Erwägung gezogen habe, abzutreiben.

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Datum:
28. Dezember 2020