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26. Dezember 2020

Grenzenloser Zufall

Drittes Leben

Nein, weder heiratete ich als Erwachsene den Jungen aus meiner Schule, noch lernte ich einen heiteren, kugelbäuchigen Mann kennen, mit dem ich als pensionierte Direktorin einer Sonderschule zusammenzog. Es gab auch den Unfall nicht, der Tobi Verstand und Gesundheit gekostet hätte. Nichts von alledem geschah.

Ich war fünfzehn und mein erster Freund saß im Gefängnis. Ich kannte ihn gerade vier Monate und sollte schon zwei Jahre auf ihn warten.
Witte. Ich hatte dem Fall einer Münze gehorcht und seinen Brief verbrannt. Es war aus zwischen uns.

In den folgenden Tagen wurde ich zunehmend unsicherer. Ich konnte eine solche Entscheidung doch nicht ernsthaft einer Münze überlassen. Was hatte Konrad Adenauers Abbild auf dem Zweimarkstück mit Witte und mir zu tun? Nichts. Vielleicht sollte ich doch zurückschreiben.
Ich fing einen Brief an, zerknüllte ihn und fing einen neuen an, der mir auch nicht gefiel. Was sollte ich Witte schreiben, wie begründen, dass ich es erst jetzt tat? Ich startete einen weiteren Versuch, der zu nichts führte, denn alles klang falsch. So ging das wochenlang.
Eine lustige Karte mit Snoopy drauf, das war die Lösung! Ich schrieb, dass der Hund ihn trösten solle und ich ihn lieb hätte. Die Adresse der JVA suchte ich mir aus dem Telefonbuch heraus.
Kaum vom Briefkasten zurück, wusste ich, dass meine Karte vollkommen daneben war. Von Witte keine Reaktion.
In der Schule machte die Sache mit dem Gefängnis die Runde. Ich sagte nur, dass wir nicht mehr zusammen seien und blockte alle Nachfragen ab. So wurde ich zur geheimnisumwitterten ehemaligen Gangsterbraut. Nanni hatte sogar ein bisschen Angst vor mir.
Hanni stand eines Tages in der Hofpause nicht mehr mit ihren Mädchen zusammen, sondern in einer Gruppe aus der Elften. Ein Typ mit langen dunklen Haaren hatte seine Hand auf ihrem Hintern liegen. Von da an ging es bergab mit der Hanni-und-Nanni-Clique. Nanni lief herum wie bestellt und nicht abgeholt. Sie hat nichts zu bieten, frohlockte ich insgeheim, nicht einmal korrekt erledigte Hausaufgaben.
Die schrieben sie weiterhin bei mir ab, aber ich ließ sie nicht immer. Die Zeit mit Witte hatte mich verändert.
Es war längst Frühling, als mir an der Bushaltestelle sein Kumpel über den Weg lief.
Witte hätte bald seinen ersten Freigang, aber das wüsste ich ja.
„Nein.“
Sein erstaunter Blick.
„Wir sind nicht mehr zusammen.“
„Ach so, verstehe.“
„Du verstehst gar nichts.“
Mit einem einzigen Schritt war er so nah, dass mir sein Atem übers Gesicht strich.
„Doch, ich verstehe ganz gut; auf euch Bräute ist kein Verlass, wenn‘s drauf ankommt!“
Er gab mir einen leichten Klaps auf die Wange und ging weiter.
„Idiot!“, murmelte ich, aber so leise, dass er es nicht hören konnte. Er hatte mir Angst eingejagt.
Was, wenn Witte meine Karte nicht nur albern gefunden hatte, sondern sie mir richtiggehend übelnahm?
Ich musste ihm sofort schreiben, dass… Nein, zu spät, alles wäre falsch, und ich wollte auch einfach nicht mehr.
Wir bekamen einen neuen Mitschüler. Ich mochte Hans sofort, alles an ihm war in Bewegung, besonders das Gesicht, wenn er sprach. In seiner Gegenwart fiel alle Schüchternheit von mir ab. Nicht lange und wir gingen zusammen. Es war, als wäre er Freundin und Freund zugleich. Von Witte sah und hörte ich zwei Jahre nichts, bis er plötzlich bei Hertie am Wühltisch neben mir stand.
„Na, Musching, lange nicht gesehen.“
„Witte.“ Ich war sprachlos.
„Schön, dass du dich noch an meinen Namen erinnerst.“
Er wirkte verändert, was nicht nur an den kurzen Haaren lag.
„Und, was machst du so?“, brachte ich schließlich heraus.
„Draußen sein, frei sein, Ruth, das reicht fürs Erste.“

Ich nickte: „Ich muss los.“
„Klar doch, lass dich nicht aufhalten. Bis die Tage.“
Hans erzählte ich nichts von der Begegnung.
Die Schule lief nebenher, ich hatte andere Sachen im Kopf. Hans wollte Clown werden. Er übte sich auf der Straße, gab kleine Vorstellungen oder imitierte Passanten. Ich sammelte das Geld ein. Am liebsten trat er am Breitscheidplatz vor der Gedächtniskirche auf, da kamen eine Menge Touristen vorbei. Lief es besonders gut, holten wir uns eine Flasche Lambrusco, kletterten heimlich auf das Dach der Kongresshalle und guckten in die Sterne.
Ich begann stundenweise in einem Zeitungsladen zu arbeiten. Meine Eltern sahen das nicht gern, wollten es auf die Ferienzeit beschränkt wissen, aber da meine Noten weiterhin gut, wenn auch nicht sehr gut, waren, ließen sie mir den Job. Der Laden gehörte einem alten Ehepaar, zu gern hörte ich dessen Geschichten aus der Zeit, als die Häuser auf der Stromstraße noch Vorgärten hatten und die Pferdebahn am Arminiusplatz hielt. Als Kinder seien sie Bolles bimmelnden Milchwagen nachgelaufen. Das rote Bolle-Männchen war mir ein Begriff und natürlich das Lied: „Bolle reiste jüngst zu Pfingsten“, wobei ich als Kind besonders die vierte Strophe geliebt hatte:
Schon fing es an zu tagen,
als er sein Heim erblickt.
Das Hemd war ohne Kragen,
das Nasenbein zerknickt,
das rechte Auge fehlte,
das linke marmoriert,
aber dennoch hat sich Bolle
janz köstlich amüsiert.
Ansonsten war Bolle für mich ein Supermarkt am Hansaplatz.
Mein Freund schleppte frühmorgens Kisten im Großmarkt an der Beusselstraße und sparte für ein Auto. Ich sparte für meinen Führerschein.
Zum achtzehnten Geburtstag eröffnete mir meine Mutter, dass mein Vater nicht mein Vater war. Er hatte mich adoptiert.
„Wir lieben dich beide, wir haben dich gemeinsam aufgezogen. Du bist genauso sein Kind wie Tobi!“
„Glaub ich nicht“, rutschte mir sofort raus.
„Unsinn“, es klang fast böse. Sie begann hektisch das Kaffeegeschirr abzuräumen, und da wusste ich, dass ich Recht hatte.
Wer mein leiblicher Vater war, wollte sie mir erst nicht sagen.
„Er ist lange tot.“
„Aber er wird doch einen Namen gehabt haben, oder?“
„Ja, natürlich. Er hieß Günther. Günther Kollem“, und nach einer Pause: „Wir waren verlobt.“ „Warum habt ihr nicht geheiratet?“
Er habe eine andere heiraten müssen, eine mit Geld. Sein Vormund hätte es so bestimmt.
Ich konnte es nicht fassen: Meine Mutter, die bei jedem zweiten Satz das Wort „anständig“ in den Mund nahm, hatte vor der Ehe mit einem Mann geschlafen!
Mehr bekam ich nicht heraus. Ich wollte ein Foto sehen. Sie habe alles vernichtet, als sie Vater, also Ernst, geheiratet habe.
Am Nachmittag erwartete mich der Mann, den ich noch ein paar Stunden zuvor für meinen Vater gehalten hatte, im Wohnzimmer, um zu wiederholen, was meine Mutter mir versichert hatte: Dass ich wie Tobi sein Kind sei. Hätte er gesagt, dass er mich ebenso lieb habe wie Tobi, hätte ich ihm vielleicht geglaubt.

Ich musste raus hier, und da die Sommerferien vor der Tür standen, beschlossen Hans und ich, unser mühsam verdientes Geld für eine Interrail-Tour auf den Kopf zu hauen, zumindest teilweise.
Ende Juni rollte eine Hitzewelle durch Europa, eine Woche Temperaturen von 30 Grad und mehr, Niederschlagsdefizite, ausgetrocknete Äcker und Flüsse, denen Sauerstoff zugepumpt werden musste. Am 1. Juli, unserem Abfahrtstag, erreichte die Hitze Rekordhöhe und Berlin wurde zum Süden. Unser Interrail-Ticket, die „Monatskarte“ für Europa kostete 290 Mark. Berlin, mein Vater oder Nicht-Vater, traten zurück, wurden unwirklich. Die Fremde nahm mich gefangen. Vielleicht war gar nichts geschehen, und alles wäre wie immer, wenn ich wieder nach Hause käme. Egal, jetzt spazierten wir durch Amsterdam und fragten den Erstbesten, wo etwas los sei und „young people“ zu finden wären. Der Typ dirigierte uns zu einem Platz, den das Denkmal eines Helden, es war bereits zu dunkel, um die Inschrift zu entziffern, beherrschte. Die Stufen zum Sockel hinauf waren dicht besetzt, wir zogen eine Cola aus dem Automaten und setzen uns dazu. Alles war erleuchtet, Reihen roter Lämpchen schaukelten entlang der Grachten im Wind, und die Kneipen waren so überfüllt, dass die Leute ihren Wein auf dem Bordstein sitzend tranken. Ausgeflippte Motorradbrüder zwischen festlich gekleideten Theaterbesuchern und eine Unzahl „Dunkelhäutiger“ oder „Farbiger“, wie man verschämt sagte, die sich durch die Menge schoben und noch bunter gekleidet gingen als die größten Freaks.
Tage später ein Abschied nach Maß; die Sonne schien riesig rot in den tonnenförmigen Bahnhof hinein und tauchte das Gewimmel der Rucksacktouristen in sanftes Abendlicht. Wir waren geborgen in diesem Tross, der träge über alle Ländergrenzen hinweg schwappte. Sieben Uhr fünfzehn, Gard du Nord. Paris. Grau und dreckig, verschmiert hinter einem dünnen Regenschleier lag sie da, die große Stadt der Liebe. Einer der vier jungen Holländer, die wir im Zug kennengelernt hatten, zog los, Fahrkarten kaufen. Wir machten Montparnasse als Treffpunkt aus, falls wir uns verlieren sollten, was augenblicklich geschah, sobald der Zug einlief und die Menge auf dem Bahnsteig in Bewegung geriet.
Die Holländer blieben verschwunden, obwohl wir lange nach ihnen Ausschau hielten. Sie waren echt nett gewesen. Wir hatten die Nacht durchgemacht, uns in einem herrlichen Kauderwelsch aus Niederländisch, Deutsch und mittelprächtigem Schulenglisch verständigt, und einer war dann mit Kopf an meiner Schulter eingeschlafen, trotzdem würde ich die Vier nie wiedersehen. Ich würde sterben, ohne, dass wir einander noch einmal begegneten. Das fand ich ungeheuerlich, und es beschäftigte mich sehr.
Weil die einen nicht mehr da waren, sprachen wir andere an, um gemeinsam nach einer Jugendherberge zu suchen. So sollte es die gesamte Tour über gehen: Ankunft auf irgendeinem Bahnhof, einen miserablen oder gar keinen Stadtplan zur Hand, sprachlich gerade in der Lage, eine Cola zu bestellen, lief man übernächtigt und dem Kreislaufkollaps nahe irgendwem hinterher und verließ sich auf den Zufall. Und der funktionierte immer.
Die Verwaltung des Maison de Clubs UNESCO saß in einer mit Blumen und bunten Vögeln bemalten Holzbaracke, einige Wellblechhütten um einen asphaltierten Platz stellten die Schlafräume dar. Das Areal wurde von einem hohen Drahtzaun eingefriedet, der den Lagercharakter unterstrich. Wir bezahlten 36 Franc für zwei Nächte und bekamen Betten zugewiesen. In die Klobaracke ging es durch eine aufschwingende Saloon-Tür. Aber so schlecht wie der erste Eindruck war das Ganze dann doch nicht. Abends wurde Volley-Ball gespielt, und wir saßen mit Leuten aus aller Welt zusammen.
Wir waren frei, rissen tausende von Kilometern auf unserer Tour ab, und wenn das Wetter nicht gut oder in der Stadt nichts los war, fuhren wir einfach weiter. Wir bestimmten und sonst niemand.

Paris verließen wir mit einigen Bremern, die auch nach Spanien wollten. Sie hatten ihre Schlafsäcke in Plastiktüten gezwängt, die am Hosengürtel baumelten, und einer schleppte sich mit einem Koffer ab, weil er auf Holzbügel und Wecker nicht verzichten konnte.
Wieder keine Platzkarten und alles voll, wir stellten uns in den Gang der ersten Klasse, die daraufhin zugeschlossen wurde. Den Rest der Nacht verbrachte ich auf dem Notsitz und Hans auf dem Boden. Mit der Morgendämmerung hatten wir plötzlich keine Lust mehr, bis zur spanischen Grenzstadt Irun zu fahren und stiegen in Biarritz aus.
Es war hundekalt in den dünnen T-Shirts, und wir warteten sehnsüchtig, dass die Sonne hinter unseren Rucksäcken aufstieg und uns durchwärmte. Hans wollte wild zelten, ich hatte Angst ums Gepäck und plädierte für den Campingplatz.
Kaum war das Zelt aufgebaut, kletterten wir zum Strand hinunter. Die Wucht der Wellen riss uns bereits in Knietiefe die Beine weg, wir kämpften und tobten, schluckten literweise Salzwasser und kehrten schließlich völlig kaputt zu unseren Handtüchern zurück. Ich schlief ein, träumte wirres Zeug und kam mit einem halbseitigen Sonnenbrand im Gesicht wieder zu mir.
Abends ins „Centre“. Die Straße hörte einfach auf, der Asphaltbelag ging in Sandboden über, man musste durchs Gestrüpp und auf einer Betonröhre über einen Bach balancieren, um den Ortskern zu erreichen. Er empfing uns mit dem üblichen Touristenstrom, Hochhäusern, aber auch prächtigen Villen mit Gärten wie aus Hollywood-Filmen. Zum Glück fand sich ein Restaurant, in dem das Menu nur 16 Franc kostete.
Am liebsten aber liefen wir an der Steilküste entlang und stellten uns vor, wie es wäre, von hier oben ins Meer zu stürzen. Die Flut hatte große Teile des Strandes überspült, aus dem Meer ragten jedoch einzelne Felsnadeln, zwei von ihnen scheinbar grundlos durch eine Eisenbrücke verbunden, wie auf einem Bild von Dali.
Wo der Strand leerer und nicht mehr bewacht war, verwitterten Polstersitze ausgeschlachteter Autos neben Plastikflaschen im Sand. Ein ausgebranntes Wrack streckte die Räder gen Himmel. Ich musste immer an die Insassen denken. Ob sie beim Aufprall so alt gewesen waren wie wir? Wir gingen täglich an den Strand, selbst wenn Himmel und Meer grau in grau lagen, immer zum unbewachten und immer an dem Wrack vorbei.
Eigentlich hatten wir weiterfahren wollen, aber irgendwie schafften wir es nicht.
Am letzten Tag wollte Hans unbedingt noch einmal an den Strand. Ich wäre lieber oben geblieben, es waren neue Leute in einem VW-Bus angekommen, von denen einer fantastisch Gitarre spielte.
„Lass uns eine Münze werfen!“, schlug ich vor.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Mach ich manchmal, wenn ich mich nicht entscheiden kann.“
Er lachte: „Na, gut“, und kramte ein 5-Centime-Stück aus seiner Hosentasche.
„Ist der Frauenkopf oben, bleiben wir hier! Ist die Zahl oben, hast du gewonnen.“
Ich warf die Münze. Der Kopf lag oben.
„Also, machen wir es uns bei ‚pain et vin‘ gemütlich!“, verkündete ich fröhlich und suchte im Durcheinander unseres Zeltes nach dem halben Weißbrot, das vom Morgen übriggeblieben war.

Hätte die Zahl oben gelegen, wäre ich mit Hans zum Strand gegangen. Wie gewöhnlich an den unbewachten Teil.
Hans machte das kalte Wasser wenig aus, mir schon, wenn es, wie jetzt nicht mehr ganz so heiß war. Außerdem waren meine Tage noch nicht durch, und ich wollte nicht, dass die Bluterei wieder anfing.

„Ich warte hier!“
„Ach, komm doch mit rein, ist das letzte Mal!“

„Nee.“
„Na gut, Prinzessin, bis später.“
Ich streckte mich auf dem Handtuch aus und döste in der milden Sonne dieses Spätnachmittags ein. Als ich wieder aufwachte, war Hans noch nicht da. Ich guckte auf die Uhr. Eine Stunde vorbei. Wahrscheinlich war er weiter oben am Strand und trocknete sich im Dauerlauf.
Eine halbe Stunde später war er immer noch nicht zurück. Ich wurde unruhig, packte unsere Sachen zusammen und begann ihn zu rufen.
Hans blieb weg. Die Dunkelheit kam plötzlich, wie immer im Süden. Ich geriet in Panik und rannte zum Campingplatz, Hilfe holen. Der Besitzer verständigte die Polizei. Sie suchten mit Scheinwerfern, ich wartete am Strand. Schließlich schickten sie mich zurück. Es sei zu dunkel jetzt.
Ich saß im Zelt und hoffte, dass mein Freund jede Minute die Plane zur Seite schieben würde und sich neben mich legen.
Im Morgengrauen schob ein Polizist die Plane zur Seite und bat mich mitzukommen.
Ich hatte noch nie einen Toten gesehen. Es war Hans.

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Datum:
26. Dezember 2020