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25. Dezember 2020

Grenzenloser Zufall

Zweites Leben

Falsch, ich überlebte die Nacht, sowie alle folgenden Nächte jenes Jahres, denn in Wahrheit kam alles anders. Da die Münze, die mir die Entscheidung abnehmen sollte, mit der Zahl nach oben gelegen hatte, verkündete ich am Abendbrottisch: „Papa, ich gehe aufs Gymnasium.“
Er verlieh seiner Freude Ausdruck, indem er mir ungeschickt die Schulter tätschelte. Umarmungen gab es nicht zwischen uns, und vor kurzem hatte mein Vater auch das Ritual des Wange Hinhaltens für den Gute-Nacht-Kuss mit der Erklärung eingestellt, ich wäre allmählich zu alt dafür.

Ich war vor allem ratlos. Was sollte in Zukunft bloß aus mir werden, ohne Karin an meiner Seite? Das Gymnasium, ein langgestreckter fünfgeschossiger Klinkerbau, sah aus wie ein Bürogebäude. Es hatte so gar nichts von einer Schule, und ich stellte mir vor, hier arbeiten zu gehen.

Wir waren über dreißig Schüler, ich saß neben einem pickeligen, dicken Mädchen, das genauso wenig sprach wie ich. In den Hofpausen aßen wir schweigend unser Pausenbrot und schauten sehnsüchtig zu den anderen Mädchen hinüber. Angeführt wurden sie von zweien, die ich anfangs für Zwillinge hielt und insgeheim Hanni und Nanni nannte. Ich hatte die Internatsgeschichten von Enid Blyton verschlungen. So wie die neuen Klassenkameradinnen, die sich ähnlich sahen, ohne verwandt zu sein, hatte ich mir meine Heldinnen immer vorgestellt. Die freche Hanni, die nie aufgab, und die ruhige, vernünftige Nanni. Was hatten die beiden alles für Gemeinheiten zu erdulden, mussten den Älteren sogar die Stiefel putzen. Doch etwas stand von Anfang an fest: Alles wird gut. Am Ende waren sie unglaublich beliebt und von vielen Freundinnen umgeben.

Jungen hatten wir in der Klasse fünf, sie waren außer einem alle kleiner als die Mädchen und sahen aus wie Grundschüler. Die guckte auch keiner an. Mir waren Jungen egal, ich wollte zu Hanni und Nanni gehören.
Karin gehörte in ihrer neuen Schule natürlich dazu. Als ich sie besuchte, saß da ein Mädchen. Die beiden redeten über Lehrer, die ich nicht kannte, und flüsterten sich kichernd Jungennamen zu, die mir nichts sagten. Ein blöder Nachmittag.

Das erste Halbjahr auf dem Gymnasium war schwer. Englisch mochte ich, aber wozu Latein lernen, eine Sprache, die selbst die Lehrer für tot erklärten. Mein Herbstzeugnis fiel dementsprechend aus und Vater ermahnte mich zu größerer Anstrengung. Mutter sagte nichts. Sie achtete zwar darauf, dass ich Schularbeiten machte, aber die Einordnung der Arbeitsergebnisse überließ sie meinem Vater.

Das Osterzeugnis war schon annehmbarer, und in der Neunten war ich eine der Besten der Klasse. Ich hatte ja auch nicht viel außer der Lernerei, saß wie gehabt neben der nicht mehr ganz so stillen, aber im Ganzen doch ziemlich langweiligen Bäckerstochter und gehörte immer noch nicht zur Hanni-und-Nanni-Clique. Sie kamen höchstens an, um sich Mathe erklären zu lassen oder meine Hausaufgaben vor dem Unterricht abzuschreiben. Manchmal erklärte ich aus Frust den Stoff so schludrig, dass sie kaum etwas begriffen. Oft konnte ich mir das allerdings nicht leisten, sonst wäre ich völlig „out“ gewesen.

Karin blieb meine Freundin, obwohl wir uns seltener sahen, im Sommer am ehesten im Poste. Hier lernte ich Leute aus ihrer Schule kennen und sie einige aus meiner. Die Hanni-und- Nanni-Clique war nie da, Hanni vertrug kein gechlortes Wasser.
Als beliebten Zeitvertreib schubsten die Jungen die Mädchen vom Beckenrand, was natürlich strengstens verboten war. Je beliebter eine war, desto öfter wurde sie geschubst. Ich konnte stundenlang unbehelligt ums Becken spazieren.

Im Sommer einundsiebzig fuhr Mutter die letzten beiden Ferienwochen mit Tobi in den Bayrischen Wald, Vater konnte wegen der Firma keinen Urlaub nehmen, und ich erklärte, auch zuhause bleiben und etwas für die Schule tun zu müssen. Ich hätte nie gedacht, mit der Nummer durchzukommen, aber es klappte.

An einem total heißen Tag, ich kam gerade mit Karins Leuten aus dem Wasser, saß ein Typ auf meiner Decke:
„Hast doch nichts dagegen, oder?“
„Das ist Witte“, ergänzte jemand.

Ich nickte, wusste wie so oft nichts zu sagen und setzte mich zu ihm. Komisches Gefühl.
Der Junge griff nach dem Päckchen, das im Bund seiner Badehose klemmte, steckte sich eine an und hielt es mir hin.
„Ich rauche nicht!“
„Sehr vernünftig!“, Er nahm einen tiefen Zug, um den Rauch gleich darauf lächelnd in meine Richtung zu blasen, während er mich anguckte. Als ich dachte, ich halte es nicht mehr aus, tönte ein „Ay, Witte!“ über die Wiese, schon sprang er auf die Füße und war weg.
Ich wartete in der Schlange vorm Kiosk, als er mich das nächste Mal ansprach:
„Bringste mir was mit, Musching?“
„Ich heiß nicht Musching!“

„Wie denn?“
„Ruth.“
„Schöner Name.“
Wir gingen nebeneinander zu meiner Decke zurück, auf die er sich wie selbstverständlich fallen ließ. Er aß seine Boulette und ich tat, als wäre ich mit meinen Pommes beschäftigt. Dann musste ich nicht reden.

Plötzlich rückte er nah an mich heran, seine Haut roch nach Sonne und Chlorwasser. Ich schloss die Augen.
Tags darauf kein Witte, dafür Karin in ihrem weißen Häkelbikini. Ich dagegen mit meinem verschossenen Kinderbadeanzug, er würde mich bestimmt kein zweites Mal küssen.

Als er endlich kam, tat er es doch, und ich war genauso überwältigt wie beim ersten Mal. Karin war baff. Ich hatte ihr nichts erzählt.
Beim dritten, zufälligen Aufeinandertreffen wollte Witte wissen, wie mein Zimmer aussieht und es sich am besten gleich ansehen.

„Jetzt?“, fragte ich unsicher.
„Klar, warum nicht, deine Alten sind doch weg, hast du gesagt.“
„Ich glaube, meine Eltern wollen das nicht.“
Ich betonte das Wort „Eltern“, hätte die beiden nie als meine „Alten“ bezeichnet.
„Warum, ich guck doch nur dein Zimmer an.“
Als er es tat, schämte ich mich für das hässliche Rautenmuster der Tapete, das von keinem Poster gemildert wurde.
Witte setzte sich auf mein Bett, wo die gleiche Tagesdecke lag wie im Schlafzimmer meiner Eltern und klopfte mit der Hand neben sich: “Komm her, Süße!“
Er pustete mir in die Halsgrube, ich musste kichern, wir küssten uns, er streichelte meinen nackten Rücken unter dem T-Shirt, ich wusste meine Hände nirgends zu lassen und umarmte ihn ungeschickt.
Am nächsten Tag saß ich als neuer Mensch im Poste und war erstaunt, dass es mir niemand ansah. Mir war, als stünde „Ich habe mit Witte geschlafen“ in flammenden Buchstaben auf meiner Stirn.
Als Mutter und Tobi aus dem Urlaub zurückkamen, war es mit den heimlichen Stunden in meinem Zimmer vorbei und uns blieben nur die Umkleidekabinen vom Poste, was ich schrecklich fand.
„Hast du denn kein eigenes Zimmer?“
Schon, aber das sei nie aufgeräumt. Ich fragte nicht nach.
Die Hanni-und-Nanni-Clique staunte nicht schlecht nach den Ferien. Witte, ich nannte ihn wie alle beim Nachnamen, machte aussehensmäßig eine Menge her. Er hatte zwar manchmal etwas Unbeherrschtes an sich, aber zu mir war er lieb.
Karin fand ihn blöd.
„Vielleicht, weil jemand ausnahmsweise mal auf mich steht und nicht auf dich?“
„Wenn schon, den kannste behalten!“
„Tu ich auch!“
Meine Freundin mit ihrem Stoffhosen tragenden Langweiler von der Bewag konnte mir gestohlen bleiben.
Ich bekam doch noch Wittes Zuhause in der Essener Straße zu sehen, wo er nach dem Tod der Mutter mit seinem Vater lebte. Die Wohnung roch nach Rauch und überall lag etwas herum. Aber sein Zimmer, ehemals die Mädchenkammer und schmal wie ein Schlauch, hatte eine Fototapete an der Tür, als ginge es auf den Strand hinaus, und von den Wänden neigten sich echte Palmenwedel zu uns herab. So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen.
Plötzlich riss sein Vater die Tür auf und rief mit schwerer Zunge:
„Ach nee, Damenbesuch!“

Hässliches Lachen. Witte schoss hoch, ein wilder Streit entbrannte und wurde zur Schlägerei. Ich hatte meinen Freund noch nie so außer sich gesehen. Ich griff meine Schultasche und floh. Zuhause warf ich mich blind vor Tränen aufs Bett. Was für ein ekliger Mann, trotzdem, wie kann man seinem eigenen Vater mit der Faust ins Gesicht schlagen?

Witte ließ nichts von sich hören und ich hatte seine Nummer nicht. Kein Lebenszeichen, wochenlang. Einfach nichts. Dann ein Brief, Absender: Friedrich-Olbricht-Damm, die Jugendstrafanstalt. Er schrieb, wie sehr er mich vermisse, dass er einsitze und mindestens zwei Drittel der Strafe verbüßen müsse. Sein Entlassungsdatum schrieb er auch.

Ich starrte auf das Papier und verstand nichts mehr.
Mein Freund, ein Verbrecher? Konnte ich mich so geirrt haben? Sollte ich zurückschreiben oder den Brief zerreißen und Witte vergessen? Eine Entscheidung musste her, und ich war nicht in der Lage, sie zu fällen. So überließ ich ein zweites Mal mein Leben dem Zufall und warf wieder eine Münze. Der Zufall entschied gegen Witte. Ich riss seinen Brief in kleine Schnipsel und verbrannte sie in Vaters Aschenbecher.

Wäre die Münze anders gefallen, hätte ich ihm zurückgeschrieben. Es wäre mir schwergefallen. Ich wollte keinen Freund, der im Gefängnis saß. Ich wollte, dass alles blieb, wie es war. Wenn Witte rauskäme, wäre ich siebzehn. Undenkbar.
Ich schrieb ihm, er schrieb zurück. Seinen Alltag in der Jugendstrafanstalt und meinen Schulalltag verband die Eintönigkeit.
Fragen nach dem Grund für seine Haftstrafe ignorierte er, teilte mir nur mit, dass er eine Maler-Ausbildung begonnen habe und auf vorzeitige Entlassung hoffe, um die Ausbildung draußen zu beenden. Schule sei kein Thema mehr.
Ihn zu besuchen, lehnte er rundweg ab, vertröstete mich stattdessen auf die Freigänge und schickte ein Foto. Ich hatte bis jetzt nur meine Erinnerungen gehabt, die zu verblassen drohten, aber jetzt war alles wieder da und ich sicher, die zwei Jahre durchzuhalten.
Auf seinem ersten Freigang erschien mir Witte ganz fremd. Nicht von den Haaren her, die waren lang wie immer, aber er guckte irgendwie anders, strahlte eine gewisse Kälte aus. „Na, Musching?“
Er nahm mich in den Arm. Sein Kuss schmeckte nicht. Wir gingen weiter. Ich traute mich nicht, ihn nach dem Gefängnis zu fragen und erzählte von der Schule. Witte schlug die Richtung zum Krupp-Park ein.
Nein, nicht auf irgendeine Parkbank, ich wollte nach Hause.
„Was ist los, Ruth?“
„Weiß nicht“, mir war zum Heulen.
„Nich einfach, so als Freundin vom Knacki, was Musching?“
Er ließ mich los und steckte sich eine Zigarette an.
„Du bist so, so anders, Witte.“
„Wärst du auch, wenn dein Zimmer Gitter vorm Fenster hätte und du nicht raus kannst.“
Er trat die Zigarette aus und erhob sich.
„Nein“, ich geriet in Panik und zog ihn wieder zu mir herunter.
Zwar rückte Witte selbst nicht mit den genauen Umständen seiner Tat heraus, aber aus seiner Umgebung erfuhr ich, dass er einen Kioskbesitzer mit dem Schraubenschlüssel bedroht und dann zusammengeschlagen hatte. Ich malte mir die Szene wieder und wieder aus und musste an den Streit mit seinem Vater denken.
In der Schule geriet ich ins Abseits, war bei der Hanni-und-Nanni-Clique als Gangsterbraut verschrien, aber zum Hausaufgabenabschreiben noch gut genug. Eines Morgens um zehn vor acht, als Hanni forderte: „Reich mir mal Bio rüber!“ sagte ich einfach: “Nein.“
Ihr in meine Richtung ausgestreckter Arm blieb in der Luft hängen und sie guckte blöde: „Na, dann eben nicht.“

Das war‘s. Egal. Die konnten mich mal.
Der Briefkontakt zu Witte wurde loser, wir mussten einander sehen und berühren, damit es funktionierte. Hatte er Freigang, überließ ihm manchmal ein Kumpel die Wohnung.
Bei mir setzte die reformierte Oberstufe ein, Klassenverbände zerfielen in Grund- und Leistungskurse, und Zensuren machten einem Punktesystem von Eins bis Fünfzehn Platz. Erste „u.e.“ für „unentschuldigte Fehltage“ auf dem Zeugnis und geringe Punktzahlen als Beleg für schlechter werdende Noten riefen meinen Vater auf den Plan, dessen Vorhaltungen ich zu seiner Überraschung mit einem Türenknallen beendete. Ein unerhörtes Benehmen.
Von da an redete er nur noch mit mir, wenn ich ihn ansprach, was ich zunehmend vermied. Ich hatte meinen Platz in der Familie ebenso verspielt wie in der Schule.
Kurz nach meinem siebzehnten Geburtstag kam Witte endgültig raus, ließ seine Lehre sausen „zu wenig Kohle“ und fing auf dem Bau an. Wir drifteten auseinander. Mein Freund gab den Proleten und Stories über seinen Polier zum Besten. Wenn ich reden wollte, tat ich es mit meinen Mitschülern, darunter echt nette. So nett, dass ich auf einer Biokurs-Fete mit einem ins Knutschen geriet. Mehr nicht, aber es reichte für ein schlechtes Gewissen. Weil ich keine Geheimnisse vor Witte haben wollte, erzählte ich ihm von der Sache.
„Habt ihr gebumst?“
„Nein, nur ein bisschen rumgeknutscht… tut mir leid. Es war…ich weiß nicht…komplett blöd von mir…“
Er schnipste seine Roth-Händle haarscharf an meinem Gesicht vorbei.
Auf der nächsten Fete zahlte er es mir mit einer puppenhaften Blondine heim. Wir waren quitt, aber es stimmte nicht mehr zwischen uns.

„Lass uns nach Spanien abhauen, Musching! Wir müssen mal raus, aus der ganzen Scheiße hier!“ Vielleicht hatte er recht.
Die Version für meine Eltern besagte, dass ich mit einer Schulfreundin ins Zeltlager fahre. Kurz hinter der Grenze, bei Helmstedt, streikte Wittes Maschine. Die Werkstatt meinte, es würde zwei Tage dauern, da sie das Ersatzteil nicht auf Lager hätten. Ich weiß nicht mehr worüber, ich weiß nur noch, dass wir uns heftig stritten und ich mit der Bahn nach Berlin zurückfuhr. Zuhause erzählte ich irgendein krauses Zeug, warum sich das Zelten erledigt habe.

Man bot mir halbherzig an, mit in den Bayrischen Wald zu fahren und ich sagte zu. Ich hatte meine Lügenmärchen samt der schwierigen Beziehung zu Witte satt, und zwar gründlich. Unsere Reise endete auf der A 3. Ich wachte in einem bayrischen Krankenhaus mit einem Schienenbeinbruch auf, Vater hatte eine schwere Gehirnerschütterung, Mutter Prellungen und Tobi lag im Koma.

Ein katholisches Krankenhaus, die Schwestern in ihrer Tracht umflogen uns wie Raben. Draußen am Horizont die Berge, drinnen der hölzerne Christus an der Wand. Meine Bettnachbarinnen waren im Alter meiner Mutter und darüber hinaus. Wie sehr wünschte ich, Witte wäre da, um meine Schmerzen zu lindern, mich in seinen Armen zu halten und zu wiegen wie ein Kind.

Als Tobi erwachte, war er nicht mehr das Kind, das wir gekannt hatten. Er würde sein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein, sagten die Ärzte.
Zuhause lag eine Ansichtskarte von Witte im Briefkasten, er hätte mich nicht erreichen können, seine Maschine hätten sie klar bekommen, und er sei nun runter, nach Tarragona.
Im Spätherbst zog ich mit meinen Eltern und Tobi raus nach Tegel, in eine Wohnung mit Zentralheizung und Fahrstuhl. Ich ging weiterhin auf meine alte Schule, damit wenigstens zwischen acht und zwei Uhr alles so blieb wie vor dem Unfall. Aber die Rechnung ging nicht auf, ich gehörte nicht mehr nach Moabit, zwischen mir und meinem alten Bezirk lag eine dreiviertel Stunde Anfahrt.

Außerdem musste ich meiner Mutter mit Tobi helfen, musste funktionieren. Oft schnappte ich mir meinen Bruder und fuhr ihn in seinem Rollstuhl an den See, Enten füttern. Das mochte er. Von Witte kam nichts mehr, obwohl ich unsere neue Adresse in die Essener Straße geschickt hatte. Ich ging jetzt mit dem Jungen aus meinem Bio-Leistungskurs, wenn ich mit ihm schlief, musste ich die Augen offenhalten, sonst erstand Wittes Bild vor mir.

Mutter und ich fanden eine seltsame Aufteilung: ich betreute Tobi, sie kümmerte sich um den gesamten Haushalt und räumte sogar mein Zimmer auf. Eines Mittags erhaschte ich einen Blick von ihr, als wir zu dritt am Tisch saßen. Tobi hing ein Speichelfaden aus dem Mundwinkel, während er sich gierig über den Teller mit Fischstäbchen hermachte. Da war kein Schmerz in den Augen meiner Mutter, ich sah nur Widerwillen gegen das behinderte Kind.

Nach dem Abitur begann ich ein Studium der Sonderpädagogik, vor dem Unfall hätte es auch Biologie sein können, jetzt wollte ich Kindern wie Tobi helfen. Ich fühlte mich schuldig mit meiner jahrelangen Eifersucht.
Ihm ging es zunehmend schlechter, und schließlich gaben meine Eltern ihren Sohn ins Heim. Ich war nicht sicher, ob dieses zitternde Bündel Mensch mich erkannte, aber es blieb mein kleiner Bruder.

Vielleicht würde ich meinen Freund heiraten und Kinder kriegen, dann würden wir ihn zu uns holen. Als die Zwillinge kamen, hätten wir nicht zusätzlich Tobis Pflege stemmen können, und als ich in der Sonderschule anfing, ging es auch nicht. Job und zwei Kinder waren genug. Und dann… Es gab immer Gründe, die gegen Tobi sprachen, der gewichtigste war mein Ehemann. Er fühle sich jetzt schon überfordert, hieß es jedes Mal, wenn ich mit dem Thema anfing.

Ich war nicht wie meine Mutter, ich besuchte meinen Bruder regelmäßig, aber ich war nicht so gut, so opferbereit, wie ich gehofft hatte.
Unsere Zwillinge waren Teenager, als ihr Onkel Tobias starb, ich die Direktorin einer Sonderschule.

Kurz vor meinem fünfzigsten Geburtstag ging mein Mann seiner Wege. Meine Nachfolgerin, eine alleinerziehende Physiotherapeutin, war bereits im fünften Monat schwanger, als er seinen Betrug beichtete. Er wolle noch einmal ganz von vorn anfangen.
Mein Unglück hielt sich in Grenzen, so wie es die Begeisterung für meinen Mann auch getan hatte. Andere Dinge waren von Anfang an wichtiger gewesen als er.

Nicht lange und ein heiterer, kugelbäuchiger Mensch erschien auf einer Weiterbildung, der mich mit der Hartnäckigkeit eines Versicherungsvertreters umwarb. Er besaß ein Häuschen in Kladow, unweit der Rieselfelder. Nach meiner Pensionierung zog ich zu ihm und wir hatten es gut.

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Datum:
25. Dezember 2020