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3. Dezember 2020

Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße:

Regina Raderschall: Zweite Wahl – Roman einer Generation

Bibliothek Mecklenburg-Vorpommern Band 6, mit einem Nachwort von Wolfgang Gabler

Herausgegeben vom Literaturhaus Kuhtor Rostock, Edition M, Weimar & Rostock 2008

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Im September wollte die Gruppe nach Ostberlin, weshalb zuvor Visa in der Jebenstraße beantragt werden mussten. Die Straße war Lisa geläufig, der Name auch, aber sie brachte das eine nicht zum anderen. Wie viele Berliner orientierte sie sich an Leitpunkten; Bahn- und Bus-Stationen, auffälligen Gebäuden, Kaufhäusern, Kneipen oder anderen sichtbaren Zeichen, wozu brauchte man Pläne und Straßennamen. Als ihnen ein Passant das Gebäude zeigte, kannten sie es natürlich, hatten nur keine Ahnung gehabt, dass das Haus in der Straße dieses Namens stand.

Visum für den 9. September 1974 zur Einreise in die Hauptstadt der DDR, stand auf dem Zettel. Sie durften zum Übergang Friedrichstraße fahren.

Was war der Osten? Unser Sandmännchen und Meister Nadelöhr aus Kindertagen, die Aktuelle Kamera oder Sudel-Edes Schwarzer Kanal und die Mauer natürlich. Auch die Briefe von Mutters Cousine, Ulbrichts Konterfei unterm Stempel, gehörten dorthin. Vor Jahren, als Martens noch lebte, hatte auch Tante Helga im Osten gewohnt. Lisa fuhr oft nach Köpenick, als sie klein war. Die Tante lebte in einem niedrigen Haus, mit dem Wohnzimmer zur Straße hinaus. Vom Küchenfenster sah man auf den Kirschbaum und die Kaninchenställe.

Über Nacht, da packten Helga und Martens noch die Kisten in der neuen Wohnung mit Zentralheizung in Westend aus, wurden die Grenzen dichtgemacht. Glück gehabt. Der Cousine schickte Mutter von nun an zu jedem Weihnachtsfest ein Paket Kaffee, Schokolade und Apfelsinen.

Sie liefen im Gänsemarsch, Lisa fühlte sich auch wie eine Gans, ängstlich und dumm, als sie ihren Ausweis dem Beamten hinter der Glasscheibe vorlegte. Er sah sie streng an, die Grenzer guckten immer, als hätte man etwas ausgefressen und bescherten einem Schrecksekunden, in denen man sich schon herausgeholt und abgeführt sah. Endlich gab der Summer die Metalltür frei, sie war drüben.

Auf der anderen Seite des Bahnhofs wartete eine andere Welt. Ost-Berlin lag unter einem Braunfi lter wie die Kinderfotos aus dem Album von Lisas Großmutter, seine Verwahrlosung hatte etwas Märchenhaftes, schien ein Geheimnis zu bergen. Der Eindruck hielt nicht lange an, machte dem grauen Filter Platz, der die Umgebung mit träger Resignation und unaufhebbarer Tristesse überzog. Ein Ort ohne Farben. Die Gruppe streunte ziellos durch die Innenstadt und landete schließlich wieder auf dem Alex. Hier ergab sich immer etwas, so auch diesmal. Gleichaltrige, auch lange Haare, auch Jeans, luden sie zu einem Fest ein.

Die Straßenbahn fuhr kreischend in die Kurven. In Moabit gab es schon lange keine mehr. Erst Hochhäuser, dann Mietskasernen aus der Vorkriegszeit und längst vergangener Klassizismus alter Bürgerhäuser vor den Scheiben. Sie stiegen aus – Lisa hatte nicht die geringste Ahnung, wo – und folgten einem Typ mit Mittelscheitel in seine Bude. Der sagte, er hätte schon mal gesessen. Damit hatten sie gerechnet, es deckte sich mit dem, was sie aus der Presse oder vom Hörensagen kannten. Es wurde ein lustiger Abend, man trank, redete über Musik, aß Stullen. Lisa kam mit einem Jungen ins Gespräch, als sie die Treppe vom Klo hochkam. Sie standen auf dem Flur, wenn das Licht ausging, drückte er auf den roten Leuchtknopf, und es ging mit einem Knall wieder an. Sie redeten ziemlich lange, schließlich drückte er den Knopf nicht mehr. Lisa schlüpfte rasch durch die angelehnte Wohnungstür, als sein Mund ihr Haar berührte. Mick, der mit dem Keramikverschluss einer Bierfl asche spielte, sah wütend auf, als sie ins Zimmer trat.

Na, habt ihr euch ausgequatscht?“

Sicher doch.“

Lisa setzte sich auf den einzigen Stuhl, anstatt neben ihn auf den Boden und stellte schadenfroh fest, dass ihn kaum jemand beachtete, während sie sich auch weiterhin wunderbar unterhielt. Er war immer noch sauer, als sie sich auf den Rückweg machten. Ihr war es seltsamerweise egal.

Die Gruppe erreichte gerade noch rechtzeitig den Grenzübergang. Sonst gern unpünktlich, hätte es niemand von ihnen gewagt, das 24-Uhr-Gebot zu übertreten.

Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass der Osten offen war, seit zehn Jahren schon, die Mauer verschwunden und der Potsdamer Platz bebaut, als wäre er ein Stück Manhattan. Ich bestaunte vom Bus aus den zweiten Teil der Stadt, als würde ich irgendwo in Deutschland Urlaub machen. Der 100er war eine echte Ausflugslinie.

Diesmal nahm ich die U-Bahn, Gitta war zurück und wir im alten Kiez verabredet. Eigentlich wollte sie in die Hackeschen Höfe, aber mir war nach Vertrautem.

Ich traf zuerst ein. Eine voluminöse Gipsgestalt ragte bis unter die Decke. Die Esskneipe war nach dem dicken Engel benannt worden. Die eierschalenfarbenenen Wände könnten mal wieder gestrichen werden. Reklame-Spiegel priesen Biersorten an: Guinness, Köstritzer, Kilkenny, Bitburger. Ich setzte mich, mit Blick auf zwei Billardspieler, an einen der Marmortische. Gitta wollte meine nostalgischen Anwandlungen bedienen. Der Laden hier existierte sicher schon lange, aber nicht für mich. Damals hieß er Der kleine Muck und gehörte einem, den wir Clapton nannten, obwohl er gar nicht Gitarre spielen konnte.

Früher war es hier nicht so gemütlich. Es gab einen alten weißen Verkaufstresen für Kuchen und andere Kleinigkeiten, der Boden war gefliest, man starrte auf riesige schwarz-weiße Kacheln. Gitta hatte vergessen, wie lange ich nicht mehr in Berlin gewesen war.

 

 

 

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Datum:
3. Dezember 2020