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24. Dezember 2020
Grenzenloser Zufall
Die sieben Leben der Ruth Kollem
Erstes Leben
Ich tat, was alle Kinder meines Alters taten, zur Schule gehen, wo ich neben meiner besten Freundin Karin saß. Oft erlaubte es Mutter nicht, dass ich sie nachmittags besuchte, denn Karin war ein Schlüsselkind. Am liebsten spielten wir beide Erwachsene, die ganz allein wohnten. Niemand störte das Spiel, Karins Mutter kam erst spät von der Arbeit und einen Vater gab es nicht. Er sei beim Angeln in die Spree gefallen und ertrunken, hieß es.
Die Wohnung an den S-Bahnbögen war auch im Sommer kühl und dunkel, wenn die Züge vorbeifuhren, lief ein Zittern durchs Haus.
Ich musste immer erst Schularbeiten machen, bevor ich losdurfte. Karin musste gar nichts. Sie war Einzelkind. Ich war die ältere Schwester von Tobi, den meine Mutter „Bübchen“ nannte. Ich hieß einfach „Ruth“.
Mit zwölf sollte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine weitreichende Entscheidung fällen und konnte es nicht. Ich hatte eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen. Vater wurde allmählich ungeduldig. Er hätte einfach über meinen Kopf hinweg bestimmen können, aber so einer war er nicht.
„Du musst es selbst wollen“, lautete seine Devise.
Ich wollte ja, aber nicht ohne Karin. Und die war zu schlecht fürs Gymnasium. Außerdem stand ihr Berufswunsch fest: Friseuse, da brauchte man kein Abitur.
Weil ich mir nicht zu helfen wusste, überließ ich das Schicksal dem Zufall und warf eine Münze auf den Wohnzimmertisch. „Fällt sie mit der Eins nach oben, gehe ich aufs Gymnasium, ist der Adler oben, gehe ich mit Karin auf die Realschule.“
Die Münze sprang in zwei Sätzen bis über die Tischkante und landete auf dem Teppich. Ein erneuter Versuch käme einer Schummelei gleich, und ich wollte kein schlechtes Gewissen haben müssen, also bückte ich mich, hob das Markstück auf und nahm die Entscheidung an. Es zeigte mit der Eins nach oben.
Hätte der Adler oben gelegen, wäre ich nach Ostern auf die Realschule gegangen. Vater hätte das bedauert. Ich wusste, dass er selbst gern auf die „höhere Schule“ gegangen wäre, aber der Krieg ihm alles zunichte gemacht hatte.
Zur Realschule waren es zehn Minuten mit dem Fahrrad. Ich saß wieder neben Karin und brachte von Anfang an sehr gute Noten nach Hause. Vater war versöhnt.
Am 19. Juli des Jahres 1969 sollte der erste Mensch den Mond betreten. Wir fuhren an diesem Sonntag mit der Familie nach Gatow. Es war heiß auf der Badewiese und der Dieselgeruch der Motorschiffe wehte von der Havel herüber. Ich buddelte mit Tobi und später aßen wir Streuselkuchen im Bootshaus Schneider. Als ich aufs Klo musste, kam mir zwischen den glänzenden Holzrümpfen der Ruderboote, die auf Böcken lagen oder unter der niedrigen Decke des Schuppens in den Seilen hingen, ein Junge entgegen. Er tat, als wolle er mich nicht durchlassen. Ich blieb stehen, unsicher, was zu tun war. Der Junge lachte und trat einen übertrieben großen Schritt zur Seite. Rasch drückte ich mich an ihm vorbei. Draußen sah ich ihn dann die Tische abräumen. Er gehörte wohl hierher.
Am Montag brachten sie das Apollo-Unglück in den Nachrichten. Präsident Nixon hielt eine bewegende Ansprache an die amerikanische Nation. Bereits in zwei Monaten würde die nächste Crew aufbrechen und das Unternehmen Mondlandung zu einem erfolgreichen Abschluss führen. Er sollte Recht behalten.
Wir waren nächstes Wochenende wieder im Gartenlokal vom Bootshaus Schneider. Tobi quengelte in einem fort, während ich einfach dasitzen und Streuselkuchen essen wollte. Am liebsten noch ein zweites Stück, das mir meine Eltern nie bestellt hätten. Wenn wir nicht aufpassten, rutschte mein kleiner Bruder von seinem Stuhl herunter und verschwand wieselschnell zwischen den Tischen. Die Leute waren nicht böse, dass er ihnen vor die Füße lief, streichelten ihm über die weichen blonden Locken und sagten: „Was für ein hübsches Kind!“
Ich hätte auch gern solche Haare gehabt. Nach dem Jungen vom letzten Mal hielt ich vergeblich Ausschau.
Wie erstaunt war ich, ihn nach den großen Ferien auf unserem Schulhof zu entdecken, wo er mit anderen in der Toreinfahrt rauchte.
Nach dem Unterricht fing er mich auf dem Hof ab und hielt mir seine Schachtel hin „Na, willste auch eine?“
„Nein“, ich lief stur weiter, auf die Turmstraße hinaus.
Er kam hinterher.
„Rauchst wohl nicht?“
Wie gern hätte ich etwas Freches oder Witziges geantwortet, schüttelte stattdessen nur stumm den Kopf und wagte nicht, dem fremden Jungen ins Gesicht zu sehen.
„Wie heißt du eigentlich?“ Ich sagte es ihm. Er nickte.
„Ich mach mich mal vom Acker, wir sehen uns.“
Im Herbst begann die Saison im Eisstadion Sellerstraße. Karin und ich gingen jeden Dienstagnachmittag hin. Es war immer voll und die Jungen machten sich einen Spaß daraus, Mädchen anzurempeln oder so zu tun, als ob sie sie gleich umfahren würden. Einmal stürzte tatsächlich ein Mädchen direkt vor unseren Augen und jemand fuhr ihr über die Finger. Sofort waren die Männer von der Aufsicht zur Stelle und holten sie vom Eis. Wo sie gelegen hatte, war nun ein großer Blutfleck, den wir uns Runde um Runde aufs Neue anguckten. Meiner Mutter erzählte ich nichts von dem Vorfall, sonst hätte sie mich nicht mehr auf die Eisbahn gelassen, aber ich trug von nun an immer Handschuhe.
Ich liebte diese Nachmittage. Wenn ich mich mit den Schularbeiten beeilte, schafften wir es pünktlich zum Einlass um drei. Die Maschinen waren dann gerade fertig und wir durften als Erste auf die spiegelglatte Fläche. Wenn wir wieder nach Hause gingen, glitzerte sie, von unzähligen Kufen zerfahren, wie Schnee im strahlenden Licht der Scheinwerfer.
Eines Nachmittags, es war zu warm für die Jahreszeit und auf dem Eis standen Pfützen, erschien der Junge aus meiner Schule mit ein paar Freunden.
„Dich kenn ich doch!“ Breites Grinsen, wobei er sich auf seinen geliehenen Schlittschuhen ungeschickt an der Bande entlang hangelte.
„Soll ich dir helfen?“, fragte ich mutig, denn Karin war ja da und ich nicht allein mit ihm. „Klar!“ Er griff nach meiner behandschuhten Hand und wir liefen los, während Pretty Belinda aus den Lautsprechern dröhnte.
Der Junge kam nicht mehr, jedenfalls nicht an unserem Eislauf-Dienstag. In der Schule fehlte er nach den Weihnachtsferien auch. Vielleicht war er weggezogen.
Ich dachte öfter daran, wie wir Hand in Hand gelaufen waren und malte ein rotes Herz mit unseren Initialen ins Tagebuch.
Im Frühling wurde ich konfirmiert und Vater schenkte mir eine Uhr. Fortan galt ich als vollwertiges Gemeindemitglied, im kirchlichen Sinne erwachsen, im weltlichen hielt mich meine Mutter für ein Kind, das gute Noten nach Hause bringen, sich „anständig“ benehmen und vor allem keine „Jungsgeschichten“ haben sollte. Doch genau so eine Geschichte brauchte ich, um nicht länger hinter Karin zurückzustehen, die seit neuestem mit Werner ging. Er trug ein Blouson mit der Aufschrift Sportamt Wedding und gehörte zu den Ordnern auf Schlittschuhen, die das Sagen hatten. Sie gaben Obacht, dass alle in dieselbe Richtung liefen, niemand auf der Bande saß und schickten allzu arge Rüpel vom Eis. Ich fand ihn ziemlich alt. Karin fand ihn gut. Wenn ihr Freund frei hatte und sie besuchte, durfte ich nicht kommen und war tief beleidigt. Als ihre Mutter durch die Nachbarn von „dem jungen Mann“ erfuhr, gab es einen Riesenkrach.
Karin blieb bei Werner, obwohl genug andere mit ihr gehen wollten. Ich konnte erst im letzten Schuljahr einen richtigen Freund vorweisen, einen Jungen aus der Parallelklasse, der schrecklich in mich verliebt war und mir ein silbernes Kettchen mit einem Anhänger in Herzform schenkte. Ich trug es nie.
Wenigstens war ich jetzt mein Fünftes-Rad-am-Wagen Image los, Karin und ich fanden wieder zusammen und wir unternahmen etwas zu viert.
Mittlere Reife; mein Zeugnis gehörte zu den besten, Karin schaffte den Abschluss mit Ach und Krach. Danach begann sie ihre Friseurlehre, während ich mich für eine Ausbildung zur Medizinisch Technischen Assistentin beim Lette-Verein bewarb.
Kaum siebzehn, wurde Karin schwanger. Ich wunderte mich immer noch, dass sie so an Werner hing, dem in der Stirn bereits die Haare ausfielen, aber sie strahlte an ihrem Hochzeitstag, als würde sie einen Prinzen heiraten.
Meinen Freund hatte ich ohne offizielles Schlussmachen aus den Augen verloren, wir riefen einander immer seltener und schließlich gar nicht mehr an.
Sonntagmorgen nach der Hochzeitsfeier bekam ich heftige Bauchschmerzen, wahrscheinlich von der vielen Kirschtorte. Mutter war drauf und dran, den Notarzt zu holen, aber ich wollte lieber bis Montag warten und zu unserem Hausarzt gehen. Abends ließen die Schmerzen im rechten Unterbauch urplötzlich nach und ich schlief erschöpft ein. Doch mitten in der Nacht riss mich eine heftige Schmerzattacke wieder aus dem Schlaf. Mein Bauch war bretthart. Mutter hörte mich weinen und weckte meinen Vater, der die Feuerwehr rief. Ich überlebte die Nacht nicht.