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9. Dezember 2020
Grenzenlose Lust II:
RISSE Zeitschrift Literatur in Mecklenburg und Vorpommern Heft 32, Frühjahr 2014
Im Königlichen Garten
Tim genoss den letzten Schluck Kaffee vor dem grandiosen Anblick der Akropolis. Nur ihretwegen hatten sie das Hotel in der smogverseuchten Innenstadt Athens gebucht. Man konnte beim Frühstück auf der Dachterrasse auf den Parthenon sehen.
Karin empfing ihn ebenso unterkühlt wie das Hotelzimmer. Sie hatte allen Grund dazu wegen gestern. Köstlich die mezedes: rosiger Fischrogensalat, gebratene Auberschinen, Oktopus und dazu reichlich vom leicht geharzten Wein. Leider hatte er später, im Hotelzimmer, nicht mehr seinen Mann stehen können.
Karin streifte ihr ärmelloses grauseidenes Sommerkleid über den Kopf, wobei sie Tim einen verächtlichen Blick zuwarf. Die Zwillinge waren bei den Großeltern und sie beide das erste Mal seit Jahren allein verreist. Karin hatte eine Menge Altertümer bestaunt und sich sogar der Kykladenkunst gewidmet. Damit war der geistigen Erbauung wahrhaftig Genüge getan.
Der körperlichen umso weniger, wenn sie an die verschenkte Nacht dachte. Sie waren angetrunken und geil, zumindest Karin, ins Hotel zurückgekehrt. Und dieser Idiot von Ehemann empfing sie mit sonorem Schnarchen, als sie in extra zu diesem Zweck erworbener Spitzenunterwäsche aus dem Bad gestöckelt kam.
„Lass uns gehen!“ Karin versuchte munter zu klingen. Sie wollte sich die restlichen zwei Tage nicht verderben. Noch war es nicht zu spät für schweißnasse Körper in leidenschaftlicher Umarmung!
Timm war erleichtert, sie hatte ihm augenscheinlich noch einmal verziehen. Er gab ihr einen freundlichen Klaps auf den Hintern, bevor sie in den Fahrstuhl stiegen.
Der Vormittag verging zwischen diversen Souvenir-Shops. Die Verkäufer stürzten sich ungeachtet aller Krisen auf die Touristen, um sie in die Geschäfte zu lotsen. War man erst einmal drin, ging es ohne ein Mitbringsel, und sei es nur ein Schlüsselanhänger, selten ab. Auch Pelze wurden jetzt, mitten im Sommer, feilgeboten. Und Schmuck natürlich, es glänzte vor Gold in den Auslagen. Als Tim und Karin dem U-Bahnhof Monasteraki näher kamen, wurde es billiger und praktischer. Jesuslatschen aus naturbelassenem ungefärbten Leder, Taschen mit Prägedruck, frech bedruckte T-Shirts und reich bestückte Kartenständer, die über sexuelle Spielarten in der Antike Auskunft gaben.
Für den Rückweg nahmen sie eine Straße mit Schuhgeschäften und Boutiquen. Zwischendurch „Enoikiaste“, „zu vermieten“ Schilder in leeren Schaufenstern. Karin schwärmte aus, Tim taperte in einigem Abstand geduldig hinterher.
Die Straße endete am Verfassungsplatz. Hier verlangte Tim energisch nach einer Pause in einem der Straßencafés. Bald darauf saßen beide vor einem eisgekühlten Nescafé mit Schaumkrone.
Als nächstes standen die Evzonen auf dem Programm. Die Elitetruppe in hellen steifen Faltenröcken führte ihre Wachablösung vor dem Parlamentsgebäude durch. Pro Rock vierhundert Falten für vierhundert Jahre Türkenherrschaft. Die Soldaten hoben die bestrumpften Beine im Neunzig-Grad-Winkel und ließen die Touristengruppen auch die genagelten Ledersolen ihrer Pompon-Schuhe sehen.
Kaum war das Spektakel vorüber, wollte Karin ihren Streifzug durch die Geschäfte fortsetzen. „Ohne mich.“ Tim fand, er hätte genug Abbitte geleistet. Man einigte sich auf getrennte Wege. Er wollte in den ehemals von Königin Amalia angelegten Nationalgarten. Bei Grabungen waren die Arbeiter damals auf Ruinen aus römischer Zeit gestoßen und hatten sie an ihrem Platz belassen. Diese Mosaikböden und Säulentrommeln wollte Tim sich ansehen.
Er trat durch das schmiedeeiserne Tor. Schon nach wenigen Schritten verebbte der Lärm der Millionenstadt. Vielfarbiges Grün umfing ihn. So unterschiedliche Bäume und Pflanzen wie in einem Botanischen Garten. Auf den Bänken Liebespaare und alte Männer, die die Perlen ihrer Kombolois träge durch die Finger gleiten ließen.
Ein weitläufiger Park. Das Sonnenlicht drang nur im Schattenspiel durch die Kronen mächtiger Platanen. Es roch nach frisch gegossener Erde. Nicht lange, so hatte Tim eine freie Bank gefunden. Ein Nackter. Keine zehn Meter von ihm entfernt. Der junge Mann, fast noch ein Knabe, ließ sich von Tim nicht stören. Er lehnte am Stamm einer Zypresse und spielte gedankenverloren mit einem kugeligen Zapfen. Vielleicht ein Spanner? Oder ein Irrer? Warum sollte es in Athen nicht ebenso viele Durchgeknallte geben wie in Berlin. Tim beschloss, den Nackten zu ignorieren.
Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen. Ein Seufzer, gefolgt vom Blätterrascheln und dem Knacken brechender Zweige. Tim sah gerade noch, wie der Nackte am Stamm hinunterrutschte. Tim war unschlüssig, was zu tun war. Vielleicht brauchte der Andere Hilfe. Mit wenigen Schritten war Tim bei ihm. Der Nackte schien das Bewusstsein verloren zu haben. Tim klopfte ihm vorsichtig auf die Wange. Der war wirklich jung, nicht älter als zwanzig und seine Haut zart wie die eines Mädchens.
„Hallo!“ Tim rüttelte ihn an der Schulter. „Hallo, hören Sie mich?“
Keine Reaktion. Tim erhob sich aus der Hocke und sah auf den ausgesprochen schönen Menschen herab. Den hätte man, so wie er hier lag, im Nationalmuseum ausstellen können. Selbst die Frisur passte: Vokuhila – vorne kurz und hinten lang, seit Ewigkeiten aus der Mode – bei ihm sah es bezaubernd aus mit dem lockigen Pony und den langen Locken im Nacken.
Tim ging seine Wasserflasche holen, vielleicht half das. Und tatsächlich, als Tim sich zum zweiten Mal niederkniete und dem Jungen die Flasche an die Lippen setzte, schlug der die Augen auf und begann zu trinken. Erleichtert wollte Tim aufstehen.
„Evcharisteo ton Kyrio!“, vernahm er und: „Eros s’ etinaxe moi frenas…“, wobei der Junge die Arme um seinen Nacken schlang.
„Schon okay.“ Tim versuchte sich loszumachen, da spürte er die Lippen des Anderen auf seinen eigenen. Er zuckte zurück, war empört, doch die unendliche Süße des Fremden ließ ihn nicht los. Tims Hände führten bereits ein Eigenleben. Sie gehorchten weder seinem Verstand noch der aufkommenden Panik, sondern wühlten in weichen braunen Locken, während Tims Blick sich in den onyxfarbenen Augen des Griechen verfing. Er wollte nichts mehr als diesen marmorweißen Leib am eigenen Leib spüren. Nichts sollte ihm entgehen, er wollte jede Schattierung betrachten, jede Stelle berühren, den Knaben schmecken, verschlingen, eins werden mit ihm. Und so geschah es.
Karin sah auf die Uhr. Noch eine Stunde bis zum verabredeten Treffpunkt. Sie hatte genug vom Shopping: ein heruntergesetztes Big-Bag und zwei Paar Riemchensandaletten zum halben Preis, das musste reichen. Für mehr war kein Platz im Koffer und kein Geld im Portemonnaie.
Bei Tim war nur die Mail-Box dran. Karin beschloss, ihm entgegen zu gehen, der Königliche Garten mit Tausenden von Pflanzen aus Italien und ganz Griechenland war sicher einen Spaziergang wert.
Das war er unbedingt, wie sie erfreut feststellte. Der gepflasterte Weg, den sie aufs Geradewohl einschlug, endete an einem offenen Platz, wo die Palmen schlank, kerzengerade und haushoch in den Himmel wuchsen. Danach gelangte sie auf verschlungenen Pfaden zu einer Treppe, deren Stufen zu einer bezaubernden Rosenlaube hinauf führten.
Nach einer kurzen Ruhepause machte sich Karin auf die Suche nach dem kleinen Zoo im Zentrum der Parkanlage. Der allerdings war eine herbe Enttäuschung mit den verdreckten Teichen, in denen heruntergekommene Enten schwammen. Auch die Käfige der übrigen Tiere waren verdreckt. Mit artgerechter Tierhaltung hatte das nichts zu tun. Karin empörte vor allem, dass sie zusehen musste, wie ein Mann dem Straußenvogel seine leere Zigarettenschachtel durchs Gitter steckte, die das Tier prompt verschluckte. Zu sagen traute sie sich nichts, denn außer ihnen beiden gab es keine Besucher. Also, bloß weg hier!
Fast wäre sie mit einem Kerl zusammengestoßen, der aus dem Nirgendwo auftauchte. Er stank nach Ziegenbock, vielleicht arbeitete er in dem Zoo. Nein, er gehörte eher selbst hinter Gitter, denn ihm wuchsen zwei kleine Hörner aus den verfilzten Locken. Sein durchgeschwitztes Jeanshemd hatte er in der Taille verknotet, der kräftige Unterkörper war mit dichtem struppigen Fell bedeckt. Der Kerl starrte sie herausfordernd an, stieß ein meckerndes Lachen aus und scharrte mit den Hufen. Karin stand der Mund offen. Bevor sich ihre Erstarrung lösen konnte, hatte der Bocksbeinige nach ihrer Hand gegriffen und stürmte los.
Obwohl er ihr kaum bis zur Brust reichte, hatte er eine unglaubliche Kraft und zerrte Karin immer tiefer ins Unterholz.
Plötzlich war die wilde Jagd zuende. Der Kerl blieb so unvermittelt stehen, dass Karin förmlich in ihn hinein lief. Sie hätte jetzt um Hilfe rufen oder einfach weglaufen können, aber sie war wie betäubt von seinem Tiergeruch. Er erregte sie. Schon umschlang sie der Kerl. Fasste unter ihr schimmerndes Sommerkleidchen. Seine haarigen Oberschenkel berührten ihre nackten Beine, sein enormes Geschlecht drängte gegen ihren Schoß. Die Luft flimmerte vor Hitze. Karin rang nach Atem. Der geile Bock stieß sie schelmisch mit seinen Hörnern. Seine Locken kitzelten ihren Bauch. Schließlich brachte er Karin zu Fall. Sie kamen zwischen faulenden Blättern zu liegen, aber das war ihr egal. Karin zog den Bocksbeinigen auf sich und kannte sich in den folgenden Stunden nicht wieder.
Die Eheleute trafen am frühen Abend fast gleichzeitig im Hotel ein. Offensichtlich hatten sie einander im Königlichen Garten verpasst. Erklärlich, befand Tim, bei der Größe dieser zauberhaften Anlage. Ja, stimmte Karin ihm zu, wirklich einmalig, die Vielfalt ihrer Bewohner.
Dann beschlossen sie gutgelaunt, den Abend in einer netten kleinen Taverne ausklingen zu lassen.
Literarischer Kalender: Regina Raderschall