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27. Dezember 2020

Grenzenloser Zufall

Viertes Leben

Nein, so tragisch endete unser Urlaub nicht, denn die 5-Centime-Münze zeigte ihr Revers mit dem Frauenkopf als Personifikation der Freiheit, und wir kehrten wohlbehalten nach Berlin zurück.
In der Familie war scheinbar alles beim Alten. Das Thema „Vater“ berührten weder meine Eltern noch ich. Ich hing mit Hans ab, kümmerte mich um die Schule und war zufrieden. Einmal, ich musste für eine Klausur lernen, ging mir Tobi derart auf die Nerven, dass ich ihn aus meinem Zimmer schickte.

„Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist nicht mal meine Schwester!“, seine Stimme überschlug sich. Mit zwei Sätzen war ich bei ihm und haute ihm eine runter.
„Ruth!“, mein Vater stand in der Tür. Er zog Tobi mit sich ins Wohnzimmer, wobei er ihn ermahnte: „Ich will so etwas nie wieder von dir hören, hast du verstanden!“

Wenn ich erwartet hatte, dass über den Vorfall gesprochen wurde, so lag ich falsch. Egal, ob Mutter oder Nicht-Vater, bei uns sagte man nur, was unbedingt gesagt werden musste.
Ich legte meine Arbeitsblätter zur Seite und starrte aus dem Fenster, er hatte ja Recht, wir waren zu Halbgeschwistern geworden. Vielleicht sollte ich ausziehen, weggehen von dieser Familie.

Ich zog nicht aus, am Abend steckte Tobi den Kopf zur Tür herein und kam, als ich nicht reagierte, vorsichtig näher: „Entschuldigung…“, er stockte, „du bist doch meine allereinzigste Schwester und…“
Lautes Schniefen. Ich nahm ihn in den Arm und streichelte sein Haar.

„Hast du mich denn noch lieb?“, fragte er zaghaft.
„Natürlich!“
Wie konnte ich je aufhören meinen Bruder zu lieben? Ob wir nun denselben Vater hatten oder nicht, wir hatten eine Mutter.
Damit war das ganze Vater-Ding vorerst erledigt, beschloss ich. Die Schule hatte Vorrang. Als sie uns dort fragten, was wir nach dem Abitur planten, fiel mir nichts ein. Hans wollte auf die Schauspielschule „das Handwerk von Grund auf lernen“ und dann als Clown durch die Welt ziehen. Ich wollte… Keine Ahnung. Und so antwortete ich meinem Lehrer, dass ich Biologie studieren würde. Immerhin mein Leistungskurs.

Was beneidete ich Hans um dessen Selbstgewissheit.
Im Dezember 1975 hatten wir unser Abitur in der Tasche. Während ich mich noch einmal mächtig ins Zeug gelegt hatte, betrachtete Hans das Ganze als reine Formsache und kam gerade so durch. Zur Abi-Fete lud uns irgendwer irgendwohin ein, wo wir mit irgendwelchen Leuten feierten, die wir mehr oder weniger gut kannten.

Wir vermissten nichts, Hans und ich waren am liebsten zu zweit unterwegs. Er kannte einen Haufen Leute, aber er hatte keine engen Freunde. Er hatte mich. Und ich hatte ihn. Es stand fest, dass wir zusammenziehen würden.
Umso erstaunter war ich, als er eine WG in einer Riesen-Altbauwohnung Nähe U-Bahnhof Spichernstraße auftat, in der noch sieben andere wohnten. Ich erklärte, dass ich zunächst mein Studium beginnen, mich an die Uni gewöhnen und dann im Sommer nachziehen wolle. „Dann ist das zweite freie Zimmer längst weg, Ruth.“

Ich blieb bei meiner fadenscheinigen Begründung, brachte nicht den Mut auf, zuzugeben, wie verletzt ich war.
Biologie an der FU, im schönen sauberen Dahlem mit seinen stillen Straßen. Mittendrin die Rostlaube genannte Uni. Modern, hell, lange Flure, behindertengerecht, die Seminarräume dank des komplizierten Koordinatensystems öfter unauffindbar. Auf mich warteten Botanik, Genetik und Zoologie; auch ein Seminar über die Entwicklungsphysiologie der Insekten mit dem Schwerpunkt Musterbildung.

Alles nicht uninteressant, ich traf Leute aus meiner alten Schule wieder, ich kam gut mit – nur die Begeisterung fehlte. Eine Begeisterung, wie sie Hans für seine Schauspielerei mühelos aufbrachte.
Er bereitete sich seit Monaten für die Prüfung an der Schauspielschule vor. Ich saß nahezu täglich in seinem Zimmer, um ihn abzuhören.

„Was für ‘n Scheiß“, beschwerte er sich.
„Wieso Scheiß, hört sich doch gar nicht so schlecht an?“
„Trotzdem, was hat das alles mit Clownerie zu tun?“
„Wenn du die Prüfung bestehen willst, musst du’s können, egal, was es ist!“
Das sah er anders, die Schauspielschule sei hoffnungslos veraltet mit ihrem Lehrstoff.
Dabei hatte er einfach nur Schwierigkeiten Texte zu lernen. Ich konnte sie bald so gut, dass ich mich selbst hätte bewerben können, aber mein Freund bekam sie nicht in seinen Schädel. Er fiel prompt durch und begann auch zu studieren, ein Orchideenfach ohne Numerus Clausus und im Nebenfach Theaterwissenschaft. Anders wäre es bei seinem Abitursdurchschnitt nicht gegangen, oder er hätte ewig warten müssen.
Bald studierten und wohnten wir zusammen. Ich vorerst bei ihm mit im Zimmer, weil die Frau, deren Zimmer ich bekommen sollte, ihren Auszug beziehungsweise Umzug nicht gebacken bekam. Ich mochte seine WG von Anfang an nicht. Sie nahm mir meinen Freund weg, immer saßen Leute in der Küche, auch welche, die ich gar nicht kannte, Freunde von Freunden.
Unsere Mitbewohner rannten nackt rum, wenn ihnen danach war. Mir war nie danach. Hans fand mich ziemlich verklemmt.
Offene Beziehung, auch so ein Thema. Die Eifersucht überwinden, den anderen nicht ersticken mit dem eigenen Besitzanspruch. Für mich nur Argumente, um mit jemandem ungestraft in die Kiste zu springen. Ich war bald auf jeden und alles eifersüchtig. Als ich ins eigene Zimmer zog, wurde es noch schlimmer, denn ich bekam Hans manchmal tagelang kaum zu Gesicht. Ich vergrub mich in mein Studium.
Ich kam von einer Exkursion zurück, als er mit steifem Schwanz auf dem Bett lag, neben sich ein Mädchen.

„Ruth, da bist du ja…“
Es sollte munter klingen, souverän, nach…nichts passiert…hat nichts mit uns zu tun.
Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte in mein Zimmer. Er kam hinterher.
„Wir haben gebumst, na und?“
„Na und“, wiederholte ich leise und sagte laut: „Lass mich allein!“
„Wir müssen reden!“
„Du vielleicht, ich nicht.“
Später redeten wir doch. Er warf mir meine spießbürgerliche Erziehung vor. Wir könnten nicht dauernd aufeinander hocken, wir müssten andere Menschen in unser Leben hineinlassen. Wir alle seien eins, die große Weltgemeinschaft. Er war stoned. Ich war tief verletzt und sann auf Rache. Ich könnte es ihm gleichtun, aber ich hatte keine Lust auf die dürren Bart-Brille-Typen um mich herum.
Und so verfiel ich auf den Gedanken, mich heimlich für die Aufnahme-Prüfung an der Schauspielschule anzumelden. Ich wusste, was verlangt wurde und konnte die Texte immer noch auswendig. Als der Termin für die Prüfung feststand, bekam ich kalte Füße. Käme ich durch, würde ich Hans dadurch einen ziemlichen Schlag versetzen. Es nagte an ihm, die Prüfung nicht bestanden zu haben, auch wenn er noch so oft behauptete, die ganze verschulte Scheiße sei so was von gar nicht sein Ding. Andererseits hatte er mich betrogen, das Bild des nackten Mädchens bei meinem nackten Freund ging mir nicht aus dem Kopf. Ja oder nein? Es drauf ankommen lassen oder nicht? Zeit für einen Münzwurf: Liegt die Zehn oben, gehe ich um zehn Uhr abends in sein Zimmer und vertrage mich mit ihm. Ist das Eichenlaub oben, gehe ich zur Prüfung.
Das 10-Pfennig-Stück lag mit der Zahl nach oben.

Hätte der eichenbelaubte Zweig oben gelegen, hätte ich die Prüfung für die Schauspielschule abgelegt. Meine kleine persönliche Rache, Hans musste nicht einmal davon erfahren, schon gar nicht, wenn ich durchfiel.
Drei Monologe oder monologähnliche Partien, jeweils aus einem klassischen, einem modernen und einem Stück eigener Wahl. Ich hatte mit einem Massenandrang gerechnet, aber außer mir saßen nur acht Leute im Raum und warteten auf ihren Auftritt. Vielleicht lag es daran, dass es eine private Schauspielschule war. Hans hätte noch mehr arbeiten müssen, um sie zu finanzieren.

Wir waren fast ausnahmslos Frauen. Zwei schienen sich zu kennen und debattierten über ihre Texte. Sie waren aufgeregt, die kleinere hatte hektische rote Flecken am Hals. Ich war es nicht, ich konnte meinen Franz Moor. Franz? Ich prustete los. Die anderen guckten irritiert, wie ich lauthals lachend aufstand und den Raum verließ.

Was war ich nur für ein unglaublicher Idiot! Ich hatte mit Hans gelernt, ich konnte seine Rollen – Männerrollen! Ich hatte keine Sekunde daran gedacht, dass ich Frauen darzustellen hatte.
Immer noch glucksend trat ich in den diesigen Nachmittag hinaus.
„Darf ich mitlachen?“
Kurz darauf saß ich mit einem Fremden im Café und erzählte ihm die ganze Geschichte. Sehr befreiend, er kannte mich ja nicht. Nach dem Kaffee gingen wir noch zu ihm und tranken Wein. Er wohnte auch in einer WG, aber sie waren nur zu dritt, er und ein Pärchen. Der Typ hatte das Zimmer voller Grünzeug. Auf dem Fensterbrett mickerten zwei Hanfpflanzen vor sich hin, die er mir stolz präsentierte. Er liebe Pflanzen, sagte er, die hätten eine Seele, und begann sich eine Tüte zu drehen. Ich blieb beim Wein und dachte an meinen Wahlpflichtkurs mit den Versuchen zur biochemischen Hefegenetik. Wohl kaum etwas, das ihn interessieren würde. Auch mich interessierte mein Studium immer weniger. Als der Typ mir unters T-Shirt ging, erwiderte ich seine Umarmung.

 

In der Nacht kam ich reichlich betrunken nach Hause. Unsere Küche war verqualmt und voller Leute. Nicht nur allgemeine Systemkritik bei billigem Rotwein, wie üblich, „Äktion“ war angesagt. Ich setzte mich dazu und langte in den Topf mit Spaghetti, hatte ich doch seit dem Morgen nichts Richtiges mehr gegessen. Hans sah nur kurz auf. Sie planten etwas mit Heimkindern, von wegen der Freiheitsberaubung durch den Staatsapparat. Ich hatte keinen Nerv für die unvermeidlich folgende Grundsatzdiskussion und ging zu Bett.
Hans und ich verstanden uns in der Folgezeit wieder besser, wir schliefen wieder miteinander. Alles war paletti. Von dem Intermezzo mit dem „Gärtner“ erzählte ich nichts, von der Schauspielschule schon gar nichts. Wohl fühlte ich mich nicht dabei. Die Schauspielschule war geschenkt, ein dummer Einfall, aber der Gärtner war es nicht. Für mich hatten Ehrlichkeit und Offenheit höchste Priorität in einer Beziehung. Ich wollte nicht herumlavieren, wie es meine Eltern gemeinhin taten. Ich musste aufrichtig sein zu Hans. Aber nicht jetzt. Wenn ich mit den Prüfungen fürs Hauptstudium durch war, dann.
Wieder wurde ein Zimmer frei, unsere Mitbewohner wechselten ständig, und die Wohnung sah aus wie Sau, weil der Putzplan durcheinander geriet oder völlig zum Erliegen kam.
Der neue Bewerber stellte sich vor – mein Gärtner. Ich fiel aus allen Wolken. Hans fand ihn gut, ich enthielt mich, er bekam sieben Stimmen, Nummer acht war auf dem Weg der Erleuchtung Richtung Indien, und Nummer neun lag mit einer Hepatitis im Krankenhaushaus. Das Zimmer gehörte dem Gärtner.
Ich konnte nicht ruhig schlafen.
„Hans!“
„Ach nö, ich bin echt fertig, Ruth.“
„Wir müssen reden!“
„Nich jetzt, morgen…“, murmelte er.
Ich horchte auf seine ruhigen Atemzüge. Nein, bis dahin hielt ich es keinesfalls aus.
„Hans!“ Ich rüttelte ihn an der Schulter.
„Mann, Ruth, spinnst du?“
„Ich kenne den Neuen, ich habe mit ihm geschlafen.“
Im Nu war er hellwach. Dass er bitter enttäuscht von mir war, weil ich nichts gesagt hatte, ging in Ordnung, aber an der Sache an sich gab es nichts auszusetzen. Trotzdem hagelte es Vorwürfe von seiner Seite, was mich auf hundertachtzig brachte.
„Du hast doch immer nach einer offenen Beziehung verlangt und mir meine Verklemmtheit vorgeworfen! Außerdem, wer hat denn als erster rumgemacht?“
Wir stritten die halbe Nacht. Hans blieb dabei, mein Vertrauensbruch wiege schwerer, er hätte es wenigstens offen und vor aller Augen getrieben.
„Du und offen! War doch reiner Zufall, dass ich euch erwischt habe!“
„Verzieh dich, Ruth!“
„Wie du willst.“ Ich warf die Tür hinter mir zu.
Funkstille. Tagelang. Dem Gärtner ging Hans zunächst aus dem Weg, aber als ich von der letzten Klausur nach Hause kam, saßen die beiden einträchtig nebeneinander und zogen einen Joint durch. Der Gärtner hatte seinen Arm um Hans‘ Schulter gelegt:
„Immer locker bleiben, Alter. Is nich einfach mit den Bräuten.“
Und in meine Richtung: „Komm Ruth, hock di hi!“
So kamen Hans und ich wieder zusammen.
Hans mochte den Gärtner immer lieber. Für meinen Geschmack kiffte der zu viel. Er vertickte das Zeug auch am Adenauer Platz. Brauchte jemand aus der WG etwas, bekam er sein 3- Gramm-Piece für einen Zehner von nun an direkt im Zimmer nebenan. Der Gärtner kannte sich aus, riet vom grünen und braunen Marokkaner ab – nichts Besonderes, der beste sei nun mal der schwarze Afghane. Einmal zeigte er mir eine 300gr-Platte mit dem Stempel Kingdom of Nepal. Dem Gärtner fehlte es nie an Geld.

Ich machte mir nicht viel aus Shit. War zu unkommunikativ, man kicherte vor sich hin, redete Unsinn oder gar nicht miteinander und fraß trockene Nudeln aus der Tüte, wenn der große Hunger kam.
Hans entwickelte sich zum bekennenden Kiffer. Er schmiss den Job beim Großmarkt und begann auch mit dem Verticken. Seine Projekt-Ideen wurden immer abstruser. Wir waren offiziell noch zusammen, schliefen, wenn es hoch kam, alle paar Monate miteinander und zwischendurch mit anderen.

Ich schloss mein Studium ab. Was nun? Eine Zukunft mit Hans schien ausgeschlossen. Er war untröstlich, seit der Gärtner eines Morgens mit Sack und Pack verschwunden war. Hatte ich gehofft, dass Hans nun mit der ewigen Kifferei aufhörte, so erwies sich das als Irrtum.
Wenn er noch Straßentheater spielte, klatschte niemand mehr, so völlig verpeilt, wie mein Freund war. Es gab unzählige Diskussionen zwischen uns, bis ich mich schließlich von ihm trennte und auszog.

Hans war so traurig. Ich auch. Seit unserem sechzehnten Lebensjahr waren wir zusammen gewesen und umarmten uns nun stumm zum Abschied.
Viele Jahre später sah ich ihn auf dem Kudamm vor Wertheim wieder. Ein lebendiges Standbild auf einem kleinen Podest, mimte er einen bewegungslosen Weißclown. Einige Leute warfen ihm Münzen in ein Schälchen. Ich auch, aber er zeigte keine Reaktion.

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Datum:
27. Dezember 2020