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13. Dezember 2020
Grenzerfahrung:
Regina Raderschall: „Endschnitt“ 13 alltägliche Geschichten, © „federchen“ Verlag, Neubrandenburg 2001
EIN NACHMITTAG IM ZOO
Günther Markwart hätte sich als normal aussehend bezeichnet, wäre er von jemandem gefragt worden. Doch diese Frage wurde nie gestellt. Weder pflegte er als Jugendlicher Brieffreundschaften noch gab er als Erwachsener Kennlern-Anzeigen auf, in denen er sich mit zwei, drei Attributen hätte beschreiben müssen. Außerdem gehörte er zu den Menschen, deren Haar- oder Augenfarbe nichts zu ihrer Personenbeschreibung beitragen.
Welche Frau hatte jemals wirklich etwas von ihm, ihn selbst gewollt? Karin wohl kaum, sonst wäre sie nicht nach einem Monat wieder bei ihrem Detlef eingezogen. Und Marga? Marga, fast fünfzig und damit weit über zehn Jahre älter als er, hatte in jenem schwülen Sommer Probleme mit dem eigenen Verfall gehabt. Das war alles. Als sie sich an seiner Zuneigung erholt hatte, kehrte sie zu ihrer Familie zurück.
Markwart war seit vierunddreißig Jahren beim Bezirksamt. Er galt als absolut zuverlässig und war in den ersten Jahren seiner Berufstätigkeit kein einziges Mal krank gewesen. Seit nunmehr drei Jahren quälte ihn ein nervöses Magenleiden, das ihn zwang, die Nahrung vorsichtiger auszuwählen. Trotzdem fehlte er nie mehr als wenige Tage im Jahr.
Markwart trat jeden Morgen um 6.32 Uhr aus dem U-Bahnhof, um über die Kreuzung zur nahegelegenen Haltestelle zu laufen. Auch wenn sich der Bus verspätete, das kam in der letzten Zeit leider häufig vor, erschien er dennoch pünktlich im Amt. Er nahm immer einen früher als notwendig, sozusagen zur Reserve.
Man konnte ihn schon von weitem an der immer gleichen grauen Stoffjacke erkennen. Die dunkelblauen Jeans nahmen ihm nichts von seiner Biederkeit. In der Linken hatte er einen hellen, etwas zu großen Aktenkoffer aus Leder. Dass er manchmal schon einen seiner in sauberen Wildlederschuhen steckenden Füße bei Rot auf die Fahrbahn setzte, verriet einen gewissen Hang zur Unabhängigkeit. Er holte den zweiten Fuß jedoch erst nach, wenn die Ampel auf Grün sprang. Die Minuten bis zur planmäßigen Ankunft des Busses konnte er auch bei Regen nicht unter dem schützenden Dach der Haltestelle abwarten. Markwart lief nach vorn zum Bordstein und starrte auf die Unterführung, von wo der 341er kommen musste.
Einmal hatte er von der Haltestelle geträumt. Wie er sich einfach auf einen der schmuddelig weißen Plastiksitze setzte. Der Bus kam. Er konnte nicht aufstehen, blieb festgewachsen auf dem Plastiksitz. Er wollte rufen, den Arm zu heben, um ein Zeichen zu geben, und konnte es nicht. Der Bus fuhr langsam an ihm vorbei. Schweißgebadet war er damals aufgewacht und hatte sich mit einem Glas Wasser beruhigen müssen.
Markwart suchte stets einen Platz am hinteren Ausstieg, damit er auch im vollbesetzten Bus rechtzeitig zur Tür käme.
Vor einigen Wochen war etwas Ungewöhnliches passiert. Der Busfahrer schien für einen Kollegen eingesprungen zu sein und kannte die genaue Streckenführung nicht. Unvermittelt sprach er die Fahrgäste an und fragte, wer von ihnen jeden Tag fahre und ihm den Weg weisen könne. Günther Markwart wartete. Niemand schien etwas sagen zu wollen. So stand er schließlich auf, ging nach vorn und gab Auskunft. Es kam einer Auszeichnung gleich, die ihn kindhaft stolz gemacht hatte.
Um kurz nach sieben erreichte Günther Markwart gewöhnlich, und so auch an seinem letzten Arbeitstag, den Flur zum Zimmer 211. Das Verwaltungsgebäude, noch vor dem ersten Weltkrieg erbaut, roch muffig auf seinen schlecht beleuchteten Gängen. Er fand die Tür verschlossen. Es freute ihn, früher da zu sein als Frau Blaschkow. Das bedeutete nicht etwa, dass er etwas gegen sie hatte. Er hatte überhaupt keine persönlichen Feindschaften. Frau Blaschkow arbeitete seit dreiundzwanzig Jahren im Amt. Sechzehn davon saß sie mit ihm gemeinsam im Zimmer 211. Er hatte einfach das Büro gern ein paar Minuten für sich allein am frühen Morgen.
Bedächtig legte er den Aktenkoffer auf die Schreibtischunterlage und hängte seine Jacke in den Schrank, bevor er die Glaskanne aus der Kaffeemaschine nahm. Leider besaß das Büro keinen eigenen Wasseranschluss. So musste er die Kanne in der Herrentoilette füllen. Die Blumen goss er nicht, sondern holte nur Kaffeewasser. Er mochte weder Blumen noch die Grünpflanzen, welche er regelmäßig von den Kollegen zum Geburtstag bekam, weil keiner wußte, was man ihm sonst schenken könnte. Markwart selbst hätte auch keinen Vorschlag gehabt.
Genau acht Löffel mussten es sein. Als er einmal versuchsweise das Kaffeepulver nach Augenmaß in die Filtertüte schüttete, hatte er später alles weggießen müssen.
Während das Wasser gurgelnd zum Sieden kam, zog er die Akte „Heim“ aus dem Registerschrank und legte sie auf den Schreibtisch. So konnte er seinen Kaffee in Ruhe trinken und fühlte sich sicher, obwohl Frau Kahle, stellvertretende Abteilungsleiterin, noch nie um diese Zeit Zimmer 211 aufgesucht hatte. Er stand auf und holte seine Tasse, die mit der Aufschrift „Bürotasse“.
Als Frau Blaschkow den Raum betrat, saß er hinter seinem Tisch, das heiße Getränk mit beiden Händen umfassend. Er beobachtete sie, wie sie den Trenchcoat vor seine Jacke hängte und sich dann auch einen Kaffee nahm. Der kleine Kopf mit den wenigen, schlecht frisierten Haaren saß auf einem dünnen Hals. Ihre Blusen blieben auch im Sommer bis zum obersten Knopf geschlossen, aber die braunen Röcke trug sie kniekurz. Trotz ihrer Magerkeit hatte sie sehr breite Hüften, was um so mehr auffiel, als sie die Oberteile immer in den Rock steckte.
Seine Kollegin setzte sich und trank in kurzen, schnellen Schlucken. Sie wollte reden, von ihrem Mann erzählen und dem Wochenende in der frisch renovierten Laube. Aber Markwart behielt den Mund so dicht an der Tasse, dass sie den Versuch bald aufgab, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Um halb acht ging Frau Blaschkow auf die Toilette, um zu rauchen. Meistens traf sie sich dort mit der Schiller aus der Lohnbuchhaltung.
Um 8.30 Uhr begann die Sprechstunde. Heim, dessen Vorgang schon seit neunzig Minuten auf dem Tisch lag, war der Erste. Günther Markwart hatte vor einigen Leuten Angst, die zu ihm ins Amt kamen. Zum Beispiel vor so einem wie Heim. Der schlurfte mit seiner fleckigen, braunen Cordhose ins Zimmer und zog den Stuhl ganz nah an Markwarts Schreibtisch, bevor er sich setzte. Das Haar klebte ihm ungewaschen am Hinterkopf. Markwart fragte schon nicht mehr nach Arbeit und Wohnung, sondern gab die Zahlungsanweisung heraus, damit der andere nur wieder verschwand und ihm nicht weiter Angst machte mit seiner groben Art.
Manuela Schmidt blieb immer höflich. Zu ihrer sonnenbank-gebräunten Haut trug sie eine eng gekräuselte Dauerwelle in weißlichem Blond. Die Frau kellnerte abends schwarz im „Bolsa“. Er hatte sie von der Straße aus durch die großen Scheiben gesehen. Es machte ihr nichts aus, denn sie wusste, wie schwach er gegen sie war. Ihre Jugend freute ihn nicht. Manuela nahm ihm die Wichtigkeit, wenn sie eintrat. Die Dreiundzwanzigjährige behandelte ihn als kleinen Angestellten, der er war. Trotzdem, wenn er abends masturbierte, dachte er nie an Karin oder Marga. Es war immer nur Manuela, die er sich nackt vorstellte.
Es kamen an diesem Vormittag noch einige Personen in seine Sprechstunde, darunter zwei Neuzugänge, die ein wenig Mühe machten.
Um zwölf Uhr begann Markwarts Pause. Frau Blaschkow ging immer erst eine halbe Stunde später in die Kantine. Heute gab es Seelachsfilet mit Salzkartoffeln. Er nahm noch eine Quarkspeise zum Nachtisch und setzte sich in den abgetrennten Nichtraucherraum. Obwohl viele einander beobachteten, war es doch nicht schwierig, den Blickkontakt zu meiden.
Der Nachmittag zog sich mit der Bearbeitung einiger Anträge hin, bei denen etliche beizubringende Unterlagen fehlten. Markwart arbeitete nicht schnell, aber auf Außenstehende wirkte es zügig. Auch vonseiten der Vorgesetzten hatte es in all den Jahren keine Beanstandungen gegeben.
Als er das Gebäude nach Dienstschluss verließ, nieselte es. Mit einem Knopfdruck öffnete sich der schwarze Markenschirm, den er stets bei sich trug. Markwart fuhr statt nach Hause zum Zoologischen Garten. Die Eintrittspreise waren gestiegen und er bezahlte mit seinem letzten 20-Mark-Schein.
Am Baum hinter dem Eingang gab ein Schild die Schließungszeit mit 18.30 Uhr an. Ihm blieben noch vierzig Minuten. Er ging zum Nashorn-Gehege. Das Tier hatte man schon hineingebracht. Allein der kreisrunde Trampelpfad im Sand zeugte von ihm. Seit dem Tod seiner Partnerin laufe das alte Nashorn nur noch im Kreis, erklärte eine Tafel den Besuchern, aber für den Transport zu einer anderen Nashorngruppe sei es bereits zu schwach.
Markwarts Weg führte hinter dem Elefantengehege an den Affen vorbei. Dichtgedrängt lagerten sie auf dem Felsen und kreischten. Markwart mochte ihre durch hochrote Ärsche offen zur Schau getragene Geschlechtlichkeit nicht. Doch heute blieb er ein wenig vor dem Affenfelsen stehen und guckte sich die Tiere an.
Wo der breite Weg den Springbrunnen kreuzte, bog er nach links ab. Er kannte sich aus, denn er kam in den Sommermonaten öfter her.
Endlich war das Ziel erreicht. Markwart blieb stehen und stützte die Hände auf die Mauer des Tigergeheges. Eine großzügige Anlage; Felsen, Bäume und niedriges Gebüsch von einem trüben Wassergraben umgeben. Er stellte den Schirm ab und zog die Jacke aus. Schließlich stieg er aus den Schuhen, ausnahmsweise, indem er mit der einen Schuhspitze den Hacken des anderen Schuhs festhielt und dann den Fuß herauszog.
Die Raubkatze war nicht zu sehen. Markwart setzte sich rittlings auf die Mauer, verharrte einen Moment in der nie gekannten Erregung und ließ sich dann fallen. Es war überraschend kalt. Mit wenigen Stößen schwamm er ans Ufer. Dort hatte das Tier hinter Büschen versteckt gelegen. Von hier unten sah er es gleich. Die Katze starrte ihn mit gelben Augen an.
Oben waren inzwischen Leute herangekommen. Zwei von ihnen richteten die Videokameras auf ihn. Markwart winkte, doch sie reagierten nicht. Die Signallampen ihrer Geräte leuchteten in den matten Spätnachmittag.
Um 18.24 Uhr mitteleuropäischer Zeit schnellte der Tiger vor. Er warf Markwart um und riss seine menschliche Beute. Günther Markwart starb mit einem hellen erstaunten Schrei.
Der Zoologische Garten schloss auch an diesem Tag pünktlich um 18.30 Uhr, nur die Leute am Tigergehege blieben bis zum Eintreffen der Streifenwagen.