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11. Dezember 2020
Grenzlast Familie I:
„RISSE Zeitschrift für Literatur“ in Mecklenburg und Vorpommern, Heft 20, Frühjahr 2008
Schubladendenken
Ganz oben im Schrank liegt mein Vater. Er quillt sogleich hervor, wenn ich die Schublade aufziehe. Nehme ich von seiner Tochterliebe, muss ich sie mit einem Eigentlich umkleiden.
Meine Mutter liegt so weit unten, dass ich mich bücken muss, um ihre Schublade aufzuziehen. Sie ist sauber gefaltet und duftet zart nach Lavendelseife. Neben ihr wäre genügend Platz, um Kollegen oder Nachbarn zu verstauen. Bisher habe ich es nicht gewagt. Flieht der Lavendel eines Tages und lässt mir die Muffigkeit alter Leute zurück, lege ich meine Mutter für immer aus der Hand.
In einer mittleren Schublade liegt mein Bruder in gefrorenen Stücken. Wenn ich das erstbeste herausnehme, kann sein Lachen explodieren. Ein anderes schmilzt vielleicht, und Tränen werden zwischen meinen Fingern hindurch auf den Marmorboden fallen.
Ich habe auch eine Schwester. Deren Schublade lässt sich nicht öffnen. Ein Honigblond sollte ganz allein drin wohnen. Welches Gesicht es umrahmte, weiß ich nicht mehr. Ich müsste in die Alben schauen.
Die fünfte Schublade war für Freunde vorgesehen. In einem unbedachten Augenblick hat sich ein Kater hineingeschlichen. Ich lasse ihn dort liegen.
In einem geheimen Fach ruht meine erste Liebe auf blauem Samt. Als ich sie letztens zu einem Klassentreffen herausnahm, zerriss das Band zwischen uns.
Literarischer Kalender: Regina Raderschall