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6. Dezember 2020

Im Grenzland
RISSE Zeitschrift für Literatur in Mecklenburg und Vorpommern, Heft 44, Frühjahr 2020

Die Fliege

Drosophila, sage ich, als ich in die Küche komme und den fetten schwarzen Brummer am Tisch sitzen sehe. Sicher nicht, sagt der, während er etwas in mein Laptop tippt und dreht einen Moment später das Gerät in meine Richtung, so dass ich auf dem Bildschirm die echte Drosophila erkennen kann, eine helle, fast gläserne Fliege, aus der die roten Facettenaugen hervorstechen. Ich kenne nur diese Fliegenart dem Namen nach, hatte in der Schule irgendwas mit Genetik zu tun, entschuldige ich mich. Ist geschenkt, brummt der Brummer, schiebt das Laptop von sich und beginnt an meiner Wildsalami zu fressen. Die war teuer, sage ich und gehe zur Spüle, um den Wasserkocher zu befüllen. Weiß ich doch. Er frisst weiter. Ich nehme den roten Becher mit der Aufschrift Nescafé Classic vom Regal und gebe zwei Teelöffel Caro- Kaffee und etwas Espresso hinein. Als ich eine Süßstofftablette hinzufügen will, fällt mir der Behälter runter. Nervös, fragt der Brummer. Genervt, antworte ich und hebe den Süßstoffbehälter wieder auf. Draußen jagt meine Nachbarin auf ihrem Fahrrad vom Hof, obwohl es in Strömen regnet.

Das Wasser kocht, ich gieße auf. Du trinkst ja wohl keinen Kaffee, oder? Hast du schon mal eine Fliege Kaffee trinken sehen? Ich nehme meinen Kaffeebecher und einen Keks aus der Keksdose und verziehe mich in mein Arbeitszimmer. Ich weiß instinktiv, dass der Brummer die Küche nicht ohne meinen Willen verlassen kann.

Aber ich kann mich nicht recht konzentrieren. Nach einer Weile tue ich so, als ob ich aufs Klo müsste, um an der Küche vorbeizukommen und nachzugucken, ob er noch da sitzt. Tut er und frisst sich durch mein Käsesortiment. Sieht aus wie bei Hempels unterm Tisch, denke ich und gehe dann wirklich pullern, weil ich schon mal vorm Badezimmer stehe. Kann ich mich eigentlich auch gleich duschen, denke ich. Aber erst wiegen.

So ein Morgenschiss bringt mindestens zweihundert Gramm, denke ich, steige auf die Waage und habe Recht. Siebenundfünfzig Komma Vier Kilo.
Ich entscheide spontan, vor dem Frühstück zur Blutabnahme zu gehen, da wird der fette schwarze Brummer nicht mitwollen. Aber will er doch.

Sitzt draußen auf der Tonne für Biomüll und lässt die Beine baumeln, das Tier. Na, gut, sage ich, aber mach mir keinen Ärger. Wo werd ich denn, sagt er. Und tatsächlich kommt er nicht mit rein in die Praxis, sondern versteckt sich im Gebüsch, bis ich mit einem Heftpflaster in der Armbeuge wieder auftauche. Bist du krank, fragt er. Hoffe nicht, sage ich, gehört zum Gesundheitscheck, alle zwei Jahre. Ach so, sagt er. Ja, sage ich und finde ihn gar nicht mehr so eklig wie heute früh.

Kann ich eigentlich gleich was einkaufen, bei Kaufland, hat schon seit sieben Uhr auf, sage ich und versuche zu scherzen: Kannst schon mal vorfliegen. Du kannst auch heute Abend einkaufen, sagt er, die haben bis zweiundzwanzig Uhr auf, weißt du doch, sagt er, und, nein, ich kann nicht vorfliegen, ich kann überhaupt nicht fliegen, ich bin zu schwer. Aber ich gehe schon mal los, und er lässt mich vor dem Ärztehaus stehen.

Als ich mit meinen paar Einkäufen nach oben komme und aufschließe, steht er direkt hinter der Tür. Mann, hast du mich erschreckt. Ich bin kein Mann, ich bin eine Fliege, sagt er. Hat mich mein Instinkt also getrogen, denke ich, von wegen, der fette schwarze Brummer könne die

Küche nicht ohne meinen Willen verlassen. Aber benimm dich, sage ich, mach mir die Wohnung nicht dreckig. Wo werd ich denn, sagt er und geht ab, ins Wohnzimmer.
Ich setze mich im Arbeitszimmer an meinen Rechner und rufe das Gutachten auf. Aber es lässt mir keine Ruhe, und ich gehe rüber zu ihm und frage: Bist du eine männliche oder eine weibliche Fliege? Warum willst du das wissen, fragt er. Vor Männern muss man Angst haben, sage ich. Schau doch nach, sagt er und macht die sechs Beinchen breit. Blödmann, sage ich und setze mich wieder an den Rechner.

Mittags Treffpunkt Johannis, so heißt die Kaffee-Bar schräg gegenüber der Kirche. Willst du mit, frage ich sicherheitshalber. Gern, sagt er.
Wir laufen nebeneinander die Morgenlandstraße hinunter, Frühling liegt in der Luft. Der Brummer ist kleiner als ich, reicht mir gerade bis zur Schulter. Wieviel wiegst du, will ich wissen. So um die Hundert, sagt er. Das ist viel, sage ich und ergänze, für deine Größe.

Als wir ankommen, sitzen sie schon draußen auf den zu Sitzmöbeln umgebauten Paletten. Der Typ von der Kirchenverwaltung, die beiden Frauen aus der Stadtverwaltung, von denen eine bei den Grünen ist und der verrückte Holländer, wie ihn alle nennen, der stets Klompen trägt, die ihm viel zu groß sind, er aber meint, die müssen so groß ausfallen, sonst könnte man im Winter kein Stroh hineinstopfen, um sich gegen die Kälte zu wappnen.

Grüß euch, sage ich, und als sie fragend auf meine Begleitung schauen, fahre ich fort, das ist Brummer, weil ich nicht weiß, ob er überhaupt einen, und wenn, welchen Namen, hat.
Die Grüne grinst ihn an, sie hat eine ganz eigene Art, alle paar Sekunden die Mundwinkel hochzuziehen. Der Typ von der Kirchenverwaltung richtet seine haselnussbraunen Augen auf die Fliege. Wir setzen uns dazu. Was willst du trinken, frage ich den fetten schwarzen Brummer, hier ist Selbstbedienung. Jedenfalls keinen Kaffee, sagt er. Ich gehe rein und begutachte die Kuchentheke. Prall gefüllt. Ich bestelle mir einen Flat White und Kalten Hund für die Fliege. Die sich gut unterhält, wie ich feststelle, als ich wieder rauskomme.

Am Abend schauen wir fern, die Fliege und ich, gucken einen Krimi im Ersten. Der Film ist blöd. Es geht gar nicht um Whodunit, sondern um die familiären Probleme einer alleinerziehenden Kommissarin, die ziemlich oft mit einem dünnwandigen Rotweinglas zu sehen ist. Noch die Tagesthemen, dann reicht es mir.

Als ich mit frischgeputzten Zähnen aus dem Bad komme, hat er den Fernseher ausgeschaltet und will mir ins Schlafzimmer folgen. Nein, sage ich bestimmt, sollen wir hier etwa die Froschkönig-Nummer abziehen und ich dich an die Wand werfen, damit du als Prinz wieder auferstehst? Wenn du mich an die Wand wirfst, werde ich nicht auferstehen, sondern als Kadaver vor deinem Bett liegen bleiben, sagt er. Entschuldige, sage ich, war nicht so gemeint, aber du musst im Wohnzimmer schlafen. Schade, sagt er. Brauchst du Bettzeug, frage ich. Nein. Na, dann eine Gute Nacht, sage ich. Dir auch, sagt er.

So hat es angefangen mit uns.

Inzwischen wohnt der fette schwarze Brummer einen ganzen Monat bei mir. Wie lange lebt eine Stubenfliege eigentlich, will ich wissen, als wir heute Morgen beim Frühstück sitzen. Bis zu 42 Tage, hängt von der Umgebungstemperatur und dem Nahrungsmittelangebot ab, sagt die Fliege und macht sich über meinen Aufschnitt her. Kann man nichts dagegen tun, frage ich und werde traurig. Nein, warum? Na, hast du keine Angst vor dem Tod? Du musst los, dein Bus kommt in vier Minuten, sagt er. Ich nehme meine Strickjacke vom Bügel. Holst du mich nachher ab? Wir könnten zum See hinunter gehen, schlage ich vor. Vielleicht, sagt er.

Nachmittags halte ich vergeblich vor dem Institut Ausschau nach der Fliege. Schließlich fahre ich nach Hause und finde das Tier in der Küche. Es bewegt sich nicht. Warum hast du mich nicht abgeholt, frage ich. Keine Antwort. Ich stoße die Fliege leicht mit dem Fuß an. Nichts. Der fette schwarze Brummer ist tot. Ich bin wieder allein.

Literarischer Kalender: Regina Raderschall

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Datum:
6. Dezember 2020