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22. Dezember 2020
Grenzen überschreiten:
Regina Raderschall: „Endschnitt“ 13 alltägliche Geschichten, © „federchen“ Verlag, Neubrandenburg 2001
Ein Sonntag mit Mutti
„Wie wär’s am Vierzehnten?“ Marion tippte mit dem Zeigefinger auf ihren Wochenplan und blickte zu Hannes hinüber. Der nahm erst ein Sesambrötchen aus dem Korb, bevor er sich äußerte.
„Ja, warum nicht, nach der Visite, so gegen zwölf, bin ich frei.“
Seine Frau nickte zufrieden: „Schön, dann fahren wir also am Sonntag, den Vierzehnten, mit Mutti ins Grüne.“
Sie angelte den Stift vom Bord an der Wand und notierte den Termin gewissenhaft im Kalender.
In den letzten Wochen hatte sie sich entschieden Zuwenig um ihre Mutter gekümmert, war gegen zwanzig Uhr, die Zeit, zu der sie gewöhnlich anrief, absichtlich nicht an den Apparat gegangen. Dieser Ausflug -im Freien zu Mittag essen, später ein schöner Spaziergang durch die Wiesen und vor der Heimfahrt Kaffee und Kuchen -sollte als eine Art Entschuldigung gelten.
Die Tagesschau lief, und Marion stand gut gelaunt am Bügelbrett, als das Telefon klingelte. Es gab keine Vorwürfe, weil sich die Tochter so lange nicht gemeldet hatte, aber die Freude über deren Vorschlag hielt sich in Grenzen.
Am Sonntagmorgen, Hannes war bereits in der Klinik, ging sie die Strecke nach Diedersdorf noch einmal in Gedanken durch. Marion kannte sich nicht gut aus in Berlin und Umgebung, obwohl sie schon etliche Jahre zusammen mit Hannes die luxussanierte Altbauwohnung in Friedenau bewohnte.
Gerade wollte sie die Riemchen der Sandaletten schließen, als Hannes anrief, um ihr mitzuteilen, dass er noch nicht weg könne und sie bat, schon vorauszufahren. Marion sah unschlüssig auf die leichten Schuhe hinab. Vielleicht waren Sandaletten doch nicht das Richtige. Für Mutti waren nackte Füße in offenen Schuhen selbst im Hochsommer unakzeptabel. Rasch schlüpfte sie in die blauen Pumps und rannte über die Rasengittersteine zum Auto.
Sie war spät dran. Ihre Mutter stand seit geraumer Zeit vor dem Haus, im hellen Kostüm, die große Handtasche mit beiden Händen vor dem Leib haltend. Die Tochter bremste scharf und rief ihr aus dem Wageninneren „Tag Mutti, gut schaust du aus“ entgegen, während sie hastig die Tür auf der Beifahrerseite öffnete.
„Danke.“
„Wie geht es dir denn so?“
Mein Gott, wie falsch das klang, aber sie redete weiter:
„Was macht dein Knöchel?“
„Ach, sprechen wir nicht darüber, es muss.“
Und dann folgte die minuziöse Darstellung ärztlicher Bemühungen während der vergangenen Monate. Es waren also nicht nur wenige Wochen gewesen, in denen sie nicht miteinander gesprochen hatten, stellte Marion beschämt fest.
Als sie vom Kaiserdamm auf den Autobahnzubringer abbog, begann sie vom Geschäft zu erzählen, wie viel Arbeit es machte und dabei noch ganz gut lief, wenn man bedachte, dass die Leute einfach kein Geld hatten.
„Warum gibst du den Laden nicht auf“, unterbrach die Mutter plötzlich, „Hannes verdient nun wirklich genug für euch beide.“ Die Tochter schwieg und gab Gas.
Auf der Landstraße in Richtung Großbeeren musste sie die Augen gegen das Licht zusammenkneifen. Selbst für diesen wolkenlosen nurblauen Himmel war es ungewöhnlich hell. Hinter einem Trabant auf der Gegenfahrbahn setzte ein schneeweißer Golf zum Überholen an, kam frontal auf sie zu und war dann verschwunden.
„Das war knapp“, Marion stieß die Luft aus.
„Ja.“
Auf dem überfüllten Parkplatz fanden sie eine schmale Lücke neben einer Schlammpfütze. Marion ging um den Wagen, um der alten Dame herauszuhelfen.
„Guck mal, hier muss es ja gestern auch mächtig geregnet haben“, versuchte sie erneut ein Gespräch, „schön, dass wir heute mit dem Wetter Glück haben, nicht Mutti?“
Sie hob den Arm, wollte ihn der Mutter um die Schulter legen und ließ ihn mitten in der Bewegung wieder sinken. Außer den sachten Wangenküssen zur Begrüßung und zum Abschied berührten sie einander nie.
Die beiden folgten dem Strom der Besucher zum geräumigen Herrenhaus, für das die Bezeichnung „Schloss“ Diedersdorf etwas übertrieben schien. Auf dem Vorplatz der Freitreppe hatte der neue Besitzer, ein Westler, einen Biergarten aufgezogen, der immer gut besucht war. Für Regentage gab es nebenan die ausgebaute Scheune, in der das Fernsehen regelmäßig eine seiner Volksmusikanten-Sendungen aufzeichnete.
Unter einer großen Kastanie waren noch drei freie Plätze. Hier konnte Hannes sie nicht verfehlen. Marion nötigte die Mutter auf die schmale Holzbank und stellte sich nach der „Grillpfanne“ und dem „Bauern Omlett“ an. Das Warten machte ihr nichts aus, so musste sie keinen Gesprächsstoff für die Mutter ersinnen, sondern konnte ihren Gedanken nachgehen. Zum Beispiel dem, warum Hannes und sie so selten miteinander schliefen, oder ob sie den heruntergesetzten Perserteppich im KaDeWe kaufen sollte oder nicht.
Als sie die Teller zur Seite geschoben hatten, das Essen war ordentlich und nicht überteuert gewesen, kam Hannes endlich.
„Na, Gisela, wie geht es dir?“
Er nannte seine Schwiegermutter stets beim Vornamen.
„Danke, schön, dass ihr mich mitgenommen habt!“ Sie strahlte ihn an.
Die Mutter mochte Hannes, weil er ein Mann war, wie der Sohn einer hätte werden sollen, den sie sich einst so sehr gewünscht hatte. Statt dessen war Marion geboren worden.
Als diese mit einer Portion Eisbein für ihn zurückkam, gab Hannes Geschichten aus dem Klinikalltag zum Besten. Die Mutter hörte das gern und versuchte, etwas aus der eigenen Krankengeschichte einzuflechten, was er achtlos überging. Aber sie war ihm nicht böse. Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis Marion Hannes zerstreuten Blick bemerkte und einen Verdauungsspaziergang vorschlug. Er winkte ab.
„Geht ruhig, ich trinke lieber noch ein Bier und halte die Stellung, bis ihr wieder da seid.“ Eigentlich wäre sie auch gern sitzen geblieben.
„Na, dann mal los, Mutti!“
Sie nahmen den breiten, mit Steinplatten besetzten Weg, der vom Schloss nach Süden führte. Es waren viele Spaziergänger unterwegs, vor ihnen liefen zwei Frauen in Tops und weiten bunten Blusen, vom Sommerwind aufgebauscht, die Ehemänner in kurzen Hosen und geflochtenen Sandalen unterhielten sich über den Benzinverbrauch japanischer Autos, während der Nachwuchs ihnen vor den Füßen herumsprang und Fangen spielte.
„Achtung Mutti!“
Marion zog die kleine alte Frau vor dem anrollenden Pferdewagen vom Weg herunter. Er fuhr jede halbe Stunde zu fünf Mark pro Person. Kinder und Erwachsene saßen dicht gedrängt zu beiden Längsseiten des Planwagens, den zwei schwere, schnaubende Gäule hügelan zogen.
Sie waren fast eine Stunde gegangen, und der Weg führte immer noch schnurgeradeaus. „Das wird dir sicher zu viel Mutti, sollen wir nicht lieber umkehren?“
Die Tochter war vor einem Schild stehen geblieben, welches das Betreten der Wiesen ausdrücklich untersagte, andererseits ließe sich querfeldein der Rückweg erheblich verkürzen. Die Mutter hatte nichts dagegen und ging sogar voraus. Marion folgte ihr nach einem letzten Blick auf das Verbotsschild.
Es war mühselig. Marions blaue Pumps versanken mit jedem Schritt tief in den nassen Wiesengrund. Die Mutter, gedankenverloren einen Grashalm zwischen Daumen und Zeigefinger drehend, schien besser voranzukommen.
„Dass ihr auch keine Kinder habt.“
„Mutti, bitte!“
„Du und der Hannes.“
Vor ihnen am Horizont bewegten sich dunkle Pünktchen auf das Waldstück zu, hinter dem Schloss und Biergarten lagen. Dort saß Hannes auf der Bank und wurde sicher langsam ungeduldig.
„Da vorn stoßen wir auf den Hauptweg.“ Marion deutete auf die Pünktchen.
Die Mutter sah nicht hin, pflückte stattdessen eine Butterblume.
Marion fächelte sich Luft zu, indem sie die Bluse vorn leicht schüttelte. Schweiß hatte sich zwischen Brillengestell und Wangen festgesetzt. Es müssten weit mehr als die angesagten fünfundzwanzig Grad sein.
„Was hast du erreicht im Leben, Marion?“
Die alte Frau lief jetzt vor ihr und so leicht, als ginge sie auf ebener Straße.
Marion hatte das Gefühl, antworten zu müssen, aber sie wollte sich wehren.
„Dass es so heiß wird, konnte heute morgen wirklich kein Mensch ahnen“, versuchte sie einen Aufschub zu erwirken. Und zählte dann endlich gehorsam auf: den guten Realschulabschluss, die Lehre, alles mit Eins abgeschlossen und die Arbeit bei Schulte, erste Adresse der Stadt… Hannes natürlich… und dann der Aufbau des Geschäfts…
„Und?“
„Und ich habe mich entwickelt“, sagte sie fest und sah zum Wäldchen hin, von wo Fetzen einer sonntäglichen Marschmusik aufklangen. „Ich bin eine reife Frau, ich weiß, was ich will, ich stehe mit einundvierzig mitten im Leben, mit beiden Beinen auf der Erde…“
Marion fiel zurück ins Schweigen.
Mechanisch setzte sie die Füße voreinander, schritt Meter für Meter ab, ohne nennenswert voranzukommen. Der weiche Grund schmatzte unter den Schuhen, während die Hitze von allen Seiten auf den Körper einbrannte und der Blick an den punktgewordenen Gestalten auf dem Weg zum Schloss und ihren Autos auf dem Parkplatz dahinter haftete.
„Du bist nicht gestanden, du hast Angst. Du wiederholst deine Fehler im Abstand von wenigen Jahren in anderen Situationen. Dein Geschäft ist kein Erfolg und Hannes ist kein Erfolg. Du hast ihn genommen, weil Gerd dich nicht wollte und Wolfgang nur zwei Jahre zu dir hielt. Du bist nicht fruchtbar, du vertrocknest.“
„Aber ich habe wenigstens manchmal Glück“, begehrte die Tochter auf, „ich bin eine gute Fahrerin. Wie ich dem Golf ausgewichen bin, wir hätten tot sein können!“
Sie hatte sich zum Triumph gestrafft.
„Kind“, die Mutter lächelte nachsichtig, “wir sind tot.“
Der Himmel lag unendlich blau auf der Landschaft. Die Sonne stand weiß im Zenit. Die beiden Frauen gingen wieder dicht nebeneinander. Auf ewig tanzten die Pünktchen am Horizont, auf ewig wehte die sonntägliche Musik zu ihnen herüber.