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19. Dezember 2020

Begrenzte Wahrnehmung
RISSE Zeitschrift für Literatur in Mecklenburg und Vorpommern, Heft 39, Herbst 2017

Hanna Fahrig

Wenige Tage nach dem Work-Shop für Autobiografisches Schreiben fand sie Ihren Familiennamen als thematischen Begriff für das nächste Heft einer Literaturzeitschrift im Netz. Das war ein Zeichen, das brächte Glück, da hätte sie etwas hinschicken müssen. Nur, was hätte sie denen erzählen sollen, die Wahrheit etwa?
Dass es zum Einschlafen für Hanna statt Märchen Anna-Geschichten gegeben hatte? Wie Anna als Zweijährige am Strand von Scheveningen verkündet: „Ich geh ́ nach Barlin!“ und einfach los stapft auf ihren dicken Beinchen – die Erzählung stets von einem mütterlichen Auflacher begleitet, als käme sie von einer Kassette und nicht von einem Menschen. Oder wie Anna im weißen Häkelkleid (hier bitte ein „chen“ anhängen) unterm Weihnachtsbaum gestanden, auf die schimmernden Kugeln gezeigt und „Bimma bamma“ gerufen hat. Das Beweisfoto hängt, stark vergrößert und silbern gerahmt, im elterlichen Wohnzimmer. Die ganze Wand über der Anrichte ist voller Anna-Bilder, Petersburger Hängung wie in einer Kunstsammlung.
Nein, zu privat.
Persönlich erzählen, aber dabei nie privat werden, hatte der Dozent in der Schreibwerkstatt dem Es – war – aber – so der Teilnehmer mit Nachdruck entgegengehalten.
Hannas eigene Erinnerung, also die an sich selbst, setzt mit einem großformatigen Bilderbuch ein, das sie auf den Knien hält. In dem Buch regnet es so sehr, dass die Tropfen zu Fäden werden, welche in eine Pfütze schlagen und aufs Kopfsteinpflaster nebendran. Ein schönes, trauriges Buch. Sie war noch wackelig auf den Beinen, damals. Deswegen hatten die Eltern ihr das Buch überhaupt geschenkt, wegen der Pusteln, dem Fieber und den eitrig verklebten Augen. Hanna kann noch nicht zur Schule gegangen sein, weil sie nicht lesen konnte und das Buch nicht mit einer Lesegeschichte verband. Ihre Erinnerung zeigt nur Bilder. Erst später hat sie Annas Namenszug auf der letzten Seite gefunden.
Hanna nimmt die Tischläufer aus der Schublade. Solche hat sie bei ihrer Nachbarin entdeckt, und die feinen, weiß bestickten Leinenbahnen haben ihr derart gefallen, dass sie tagelang durch die Stadt lief nach dem Dienst, bis sie ähnliche fand, wenn auch nicht ganz so hübsche. Auf Anna durfte man nicht böse sein, denn Anna war tot. Hanna musste die Tote liebhaben. Mama und Papa hatten sie schließlich auch ganz doll lieb. Die Schwester war mit zwölf an einer schrecklichen Krankheit gestorben. Hanna hätte gern gewusst, was für eine genau, aber ihre Mutter begann zu weinen, sobald sie nachfragte und ihr Vater schimpfte sie ein rücksichtsloses kleines Mädchen.
Anna hatte Zöpfe getragen, die sie sich in einer Anna-Geschichte rot färbt und Blumendraht hineinflicht, damit sie lustig abstehen zum Fasching. Sie hat zwar keinen Preis gewonnen für ihre Pippi-Langstrumpf-Version, doch auf einem Foto schlägt sie in eben dieser Verkleidung ein Rad auf der Wiese hinter dem elterlichen Haus. Auch Hanna musste straff geflochtene Zöpfe tragen.
Zu ihrem neunten Geburtstag bekam sie der Verstorbenen Lieblingspuppe, obwohl sie sich sehnlichst einen Zauberkasten wünschte. Hanna verschwand im Bad, schnitt der Puppe mit Mutters Nagelschere die Haare ab und trat mit dem verunstalteten Spielzeug vor die versammelte Verwandtschaft. Mutter gab ihr eine schallende Ohrfeige und riss das Kind mit sich fort, um es in der Besenkammer einzusperren.
Als Hanna wieder herausdurfte, war die Kaffeetafel längst aufgehoben und die Verwandtschaft verschwunden, dafür verabreichte ihr der aus der Firma heimgekehrte Vater eine ordentliche Tracht Prügel. Er schien weniger wegen des abgeschnittenen Puppenhaars aufgebracht, als vielmehr wegen des Kummers, den sie ihrer Mutter „wie-der ein-mal“, jede Silbe ein Schlag mit dem Teppichklopfer, bereitet hatte.

Hanna betrachtet ihr nussbraun getöntes Haar im Spiegel, das nicht recht sitzen will. Es ist zu lang und zu dünn sowieso, sie wird es gleich morgen raspelkurz schneiden lassen.

Wie sehnte sie den dreizehnten Geburtstag herbei! Von diesem Tag an würde sie von der Toten mehr unterscheiden als ein H, dann würde die Welt ihr allein gehören. Keine Anna- Vergleichsfotos mehr. Anna wäre dann wirklich tot und Hanna könnte endlich aufleben.
Doch es sollte anders kommen. Nach jenem Geburtstag geriet Hanna aus dem Blickfeld ihrer Eltern und fühlte sich zu einer Fremden verwandelt, deren Bleiberecht immer fragwürdiger schien, bis sie schließlich von selbst in ein Lehrlingswohnheim zog.

Ihr Erster war eine Sommerliebe, danach kam Christian, um einiges älter, mit dem sie bis zum Abschluss der Ausbildung ging und eine dritte Beziehung, die wie die beiden vorigen und alle nachfolgenden an Hannas tiefer Überzeugung scheiterte, nicht liebenswert zu sein. Inzwischen ist sie zweiunddreißig Jahre alt. Björn, ihr letzter Gefährte, sich mittlerweile als guten Freund bezeichnend, empfahl ihr, professionelle Hilfe anzunehmen, was sie beherzigte und dadurch erfuhr, dass es gut tut, sich zu offenbaren und sein Leid für die Dauer einer Sitzung zu teilen. Sie müsse unbedingt mit Ihren Eltern sprechen, Klarheit schaffen und sich befreien, forderte der Therapeut seit Wochen und genau das würde sie heute tun. Deshalb diese Einladung.

Hanna befreit den Kuchen aus seiner Styroporverpackung: ein schöner, wie hausgemachter Kuchen voller glänzender Kirschen zwischen Streuselbröckchen.
Es klingelt ins Gurgeln der Kaffeemaschine. Gleich werden sie oben sein, der Fahrstuhl funktioniert seit dem Vormittag wieder. Fünf Stockwerke zu Fuß, das hätte ihre Mutter völlig außer Atem gebracht, was sie nicht schätzt und es steht ihr auch nicht, so hochrot im Gesicht. Dem Vater einen flüchtigen Kuss, bei der Mutter verweilt sie etwas länger, die ist größer als die Tochter und breiter. Hanna hat die Zierlichkeit von ihm geerbt. Sie nimmt den Eltern die Mäntel ab und geht, weil beide unentschlossen in der Diele verharren, ins Wohnzimmer voraus. Die Eltern waren nicht oft zu Besuch. Mutter wird heute wieder fragen müssen, welche der Türen ins Bad führt.

Man setzt sich, die Mutter lobt die Tischläufer, später den Kuchen und der Vater die freie Sicht auf den Park. Als Hanna eine zweite Kanne in der Küche aufbrüht, trinkt sie heimlich Cognac. Draußen dunkelt es bereits. Nun aber; sie strafft sich, nimmt die Schultern zurück, wie es ihr der Therapeut eingeschärft hat und erklärt, dass sie in ihrem Alter nur sie selbst sein will und fortan die ewigen Anna-Geschichten nicht mehr dulde. Mutter verfällt übergangslos in ein hysterisches Gelächter, Vater senkt den Kopf und guckt sich am Teppichmuster fest. Hanna gerät aus dem Takt, die wohlige Cognacwärme im Magen verfliegt.

Ohne dass der Vater es verhindert, gibt die Mutter in wenigen Sätzen ihre Verachtung preis, schreit Hanna das nichtsnutzige Tochterleben über den Couchtisch hinweg ins ungeschützte Gesicht.
So vorsichtig, als verlasse sie nach langer Bettlägerigkeit das Krankenlager zum ersten Mal, steht Hanna auf, nimmt die Mäntel der Eltern von den Bügeln und holt den Fahrstuhl.

Die Mutter zieht mit fest zusammengepressten Lippen lederbezogene Knöpfe durch die Schlaufen ihres feinhaarigen Wintermantels. Der Vater sieht plötzlich dumm aus mit dem Hut in der Hand.
Hanna bleibt an der Wohnungstür stehen. Sie müssen an ihr vorbei. Jetzt könnte sie vortreten und den Vater und die Mutter schlagen, bis sie einknicken und zu Boden gehen, könnte nachtreten, direkt in ihre Gesichter und ihnen die aufgerissenen Mäuler stopfen. Stattdessen wartet sie stumm, bis die beiden noch nicht alten Menschen an ihr vorüber sind und schließt die Tür, ohne „Auf Wiedersehen“ zu sagen.

Literarischer Kalender: Regina Raderschall

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Datum:
19. Dezember 2020