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18. Dezember 2020
Grenzenlose Übertreibung
Regina Raderschall: „Caput mortuum und andere Desaster” Neun böse Geschichten, Magma
Verlag 2012
Kindergeburtstag
Kirsten war erstaunt, die Mutter ihres Patenkindes am Telefon zu haben. Normalerweise war Carola zwischen halb acht und neun für niemanden zu sprechen, weil sie Anna-Lena ins Bett brachte. Doch das Kind war bei seinem Vater, und Carola bat Kirsten, den Geburtstag für die Kleine auszurichten.
„Was soll ich machen, mein Orthopäde sagt, so kurz nach der OP darf ich das Knie noch nicht richtig belasten …“
„Und Hans?“
„Ach Hans“, schnaubte Carola verächtlich.
Vom Kindesvater hielt sie rein gar nichts und ließ die Kleine nur auf Druck des Gerichts jedes zweite Wochenende ein paar Stunden bei ihm.
„Kirsten, du machst das schon, du warst doch immer dabei.“
Carola bat inständig, und schließlich gab Kirsten nach.
„Mehr als fünf werden es sicher nicht, ich schicke sie dir nächsten Donnerstag gegen drei. Also, dank’ dir.“
Das Gespräch war beendet.
Kirsten steckte sich eine Zigarette an. Ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. Sie hatte noch nie viel mit Kindern anfangen können und die ihr angetragene Patenschaft nur widerwillig übernommen. Aber Carola war seit Studienzeiten ihre Freundin und damals in einer „schwierigen Phase“ gewesen.
Im Grunde kannte Kirsten Carola nicht anders als in Probleme mit Männern verstrickt. Hans war auch so einer gewesen, der sich nicht räumlich trennen konnte von der Ex, weil die womöglich aus dem Balkon der gemeinsamen Etagenwohnung gesprungen wäre. Carola setzte die Pille heimlich ab, um eine Entscheidung zu erzwingen. Als sie stolz ihre Schwangerschaft verkündete, machte Hans ein Gesicht, als sei er geschlagen worden.
Er schwor, dem Kind ein liebevoller Vater zu sein. Carola fasste er nicht mehr an, sie sei auf eine Art heilig für ihn. Nun hatte er zwei Heilige, seine ex-Ex und Carola als neue Ex. Kirsten tröstete ihre Freundin und setzte während der neun Monate unzählige Tees für sie auf.
Das Baby gab Carola nicht aus der Hand und selbst der Patentante nur, um beim geringsten Laut triumphierend „Sie fremdelt!“ auszustoßen und es ihr wieder aus dem Arm zu reißen.
Als Anna-Lena zwei Jahre alt wurde, lud Carola andere Kinder ein. Kirsten konnte sich noch gut erinnern, wie Anna-Lena umhergegangen war und den kleinen Gästen die dünnen Haare aus der Kopfhaut gezogen hatte.
An ihrem dritten Geburtstag hatten ihr die Geschenke nicht gepasst, und sie biss Kaliope in die Wange. Es blutete. Carola erklärte deren erschreckter Mutter, man solle die Kinder ihre Konflikte untereinander austragen lassen und sich nicht einmischen.
Carola selbst zeigte weniger Toleranz, als Ali-Kemal, zu den Geburtstagen wurde immer ein Kind mit Migrationshinter- oder – vordergrund eingeladen, Anna-Lena von dem im Wohnzimmer aufgebauten Kaspertheater wegschubste, um besser sehen zu können. So ginge es nicht, überschlug sich Carolas Stimme, dass die in der Türkei übliche patriarchalische Unterdrückung bei ihrer Tochter umgesetzt werde. Die Türkin nahm ihren Sohn und ging, während die anderen Mütter betreten schwiegen.
Zur Feier ihres vierten Geburtstags hatte Anna-Lena erklärt, dass die Zauberkunststücke ihres Großvaters Scheiße seien, mit der Tür geknallt und war für den Rest des Tages im Schlafzimmer ihrer Mutter verschwunden. Als Kirsten mit ihr zu sprechen versuchte, wurde sie als „auch Scheiße“ bezeichnet und weggeschickt.
Kirsten stellte sich nach jedem überstandenen Geburtstag vor, wie sie Anna-Lena den Hintern versohlen würde. Carola schlug ihr Kind nie, stattdessen schloss sie es nach offensichtlichem Fehlverhalten fest in die Arme und redete minutenlang auf Anna-Lena ein, die sich vergeblich aus ihrem Griff zu winden versuchte.
Und nun also der fünfte Geburtstag. Als die Kinder, es waren sieben und nicht, wie angekündigt, fünf, am Donnerstag fast gleichzeitig vor ihrer Haustür standen, hatte sie bereits eine halbe Flasche White Port getrunken, was ihre Nervosität leider nur geringfügig dämpfte.
Sie begann nach Kakao und Kuchen mit der „Reise nach Jerusalem“. Anna-Lena rannte zu langsam um den Kreis von Stühlen und flog bereits nach der zweiten Runde raus, da ihre Mutter nicht da war, um durch eine Mogelei zu helfen. Sie bekam einen Tobsuchtsanfall. Kaum war dank zusätzlicher Schokolade, Kirsten hatte nur noch mit Williamsbirne gefüllte von Weihnachten, die den Kindern trotzdem schmeckte, etwas Ruhe eingekehrt, wollte einer fernsehen. Kirsten verbot es, während sie das Kaspertheater aufbaute. Anfangen konnte sie nicht mit dem Stück, da Anna-Lena und ein Moritz sich Kasper und Zauberer geschnappt hatten und selbst spielen wollten. Gretel war auch nicht mehr in der Kiste, sondern beim Friseur, da ihr eine Leonie mit der Küchenschere die Kunstfaserhaare stutzte. Kirsten verschwand in der Küche, um noch einen Schluck zu nehmen. Die Kinder übernahmen inzwischen den Theaterbetrieb.
Sie merkte, wie sie eine gewisse Milde überkam. Allerdings nur, bis sie sah, dass ihr empfindliches Designersofa zum Trampolin umfunktioniert wurde.
„Kommt bitte da runter!“
Keine Reaktion.
„Ihr sollt da runterkommen, verdammt noch mal!“, hörte sie sich brüllen.
Die Kinder hielten beeindruckt inne und stiegen langsam von der Couch.
Sie wusste, dass sie bereits verloren hatte. Wie damals im Referendariat, als der Tumult ihrer Grundschulklasse bis auf die Flure hinaus zu hören gewesen war und die Kollegen in ihr Unterrichtsgeschehen eingreifen mussten. Am Ende hatte sie das Lehramt aufgegeben.
In der Bankfiliale war sie durch einen hohen Tresen vor dem Publikum geschützt. Den wünschte sie sich im Moment sehnlichst.
„Kommt Kinder, Topfschlagen!“
„Kommt Kinder, Topfschlagen!“, äffte sie der Moritz nach und klatschte in die Hände. Die anderen kicherten. Kirsten schaffte es, ein rothaariges Mädchen zu überreden und band ihr das Tuch vor die Augen. Die anderen begannen sie zu ärgern, als sie blind über den Teppich krabbelte und mit dem Holzlöffel auf den Boden schlug. Der Moritz rannte dauernd in eine andere Ecke des Zimmers und schrie: „Heiß, ganz heiß!“
Das Mädchen hielt inne, wagte aber nicht, das Tuch von den Augen zu ziehen. Plötzlich rannten alle Richtung Küche. Kirsten kniete sich neben das rothaarige Mädchen „Warm, ganz warm, heiß“, während sie unmerklich den Topf heranzog, sodass die Kleine ihn mit dem nächsten Schlag treffen musste. Als sie das Tuch herunterzog und den Kochtopf anhob,machte sie ein enttäuschtes Gesicht: „So was mag ich nicht“, ließ die Süßigkeit liegen und lief zu Moritz hinüber. Der trat gegen die Küchentür, hinter der sich welche verbarrikadiert hatten.
„Schluss jetzt!“
Kirsten beherrschte sich nur mühsam. Moritz trat weiter.
„Macht die Tür auf!“
Keiner kümmerte sich um die Erwachsene. Kirsten hatte genug, riss Moritz weg und warf sich gegen die Türfüllung.
Drinnen war die Leonie umgefallen und heulte nach ihrer Mama. Kirsten versuchte sie in den Arm zu nehmen, Leonie schrie noch lauter. Moritz hatte inzwischen den Stabmixer angestellt und hielt ihn wie eine Waffe vor sich. Kirsten sprang auf, um ihm das Küchengerät aus der Hand zu reißen, er hielt fest, da schlug sie ihm ins Gesicht. Moritz ließ los und heulte nun im Chor mit Leonie.
„Das sage ich meiner Mama, du blöde Sau!“
Kirsten war erschrocken über sich und hockte sich neben ihn.
„Das wollte ich nicht, ist ja gut.“
Er spuckte sie an und lief zurück ins Wohnzimmer.
Sie musste hier raus, irgendein dämliches Schatzsuchspiel im freien Gelände, das war die Lösung!
Die Kinder hatten keine Lust, aber als Kirsten ihnen einen echten Geld-Schatz statt Süßigkeiten versprach, zogen sie sich an. Sie merkte, dass ihr langsam die Stimme wegblieb, als sie die Wohnungstür hinter sich zuzog und den Schlüssel hinter den Blumentopf legte. Immerhin war sie mit einer Kehlkopfentzündung krankgeschrieben und nahm Antibiotika. Kirsten tastete nach ihrem Portemonnaie und fand genügend Münzen sowie einige Fünf-, Zehn- und einen Zwanzigeuroschein. Die Kinder waren den Feldweg voraus, Richtung Wald gelaufen und suchten nach dem „Schatz“. Kirsten folgte ihnen und ließ unauffällig eine Münze auf den Weg fallen.
„Ich hab’ einen Schatz gefunden!“, rief eine Maxie und hielt triumphierend ein Zwei-Euro- Stück in die Höhe. Die anderen wurden ganz aufgeregt. Und natürlich fanden sie weitere Münzen und die Scheine. Kirsten war erleichtert. Draußen klappte es wirklich besser mit den Kindern.
Es war Moritz’ Idee, dass Kirsten eine Gefangene spielen sollte, die von Indianern befreit wird. Ihr war alles recht, wenn sie nur den Nachmittag überstand. Bereitwillig zog Kirsten den Gürtel aus den Schlaufen ihres Mantels und ließ sich von den Kindern an den feuchten Stamm einer Buche fesseln. Moritz zog den Knoten fest.
Plötzlich rief er: „Die Monster kommen!“ und stürzte davon. Die anderen kreischten in wonnigem Grusel auf und rannten ihm nach.
Sie kamen nicht zurück, um ihre Gefangene zu erlösen, sondern spielten das Monster-Spiel die gesamte Wegstrecke bis zum Haus. Kirsten versuchte die Hände frei zu bekommen, während der eisige Wind unter ihren Mantel fuhr. Doch der Knoten saß fest.
Auf Carolas Klingeln öffnete Anna-Lena die Tür, die anderen spielten friedlich im Wohnzimmer.
„Wo ist denn die Kirsten?“
Anna-Lena sah zu Moritz hinüber, der ihr verschwörerisch zublinzelte.
„Die ist weggefahren.“
Carola schüttelte verständnislos den Kopf und suchte die Jacke ihrer Tochter aus dem Kleiderhaufen vor der Garderobe heraus.
„Das ist ja unglaublich“, erboste sie sich, „lässt die Kinder einfach hier sitzen. Na, die kann was erleben!“
Sie tippte Kirstens Nummer ins Handy, aber es meldete sich niemand.
Inzwischen waren auch die übrigen Mütter und ein Vater eingetroffen. Man kam überein, dass Kinderlosen nicht zu trauen sei. Was hätte alles passieren können im Haus. Die Eltern
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begannen die Kinder zu trösten, die versuchsweise zu weinen anfingen, daraufhin noch mehr getröstet wurden, was zu lauterem Weinen und das wiederum zu allerlei Versprechungen seitens der Mütter und des Vaters führte, was man ihnen für das Ausgestandene kaufen wolle. Darüber versiegten die Kindertränen und alle machten sich auf den Heimweg. Es war ein schöner Geburtstag gewesen.
Kirsten stand derweil gefesselt im Wald, wo sie auch blieb, bis der Revierförster am Wochenende die Tote entdeckte und von der Buche losschnitt.