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17. Dezember 2020
Grenzenlose Gemeinheit II
„Mord auf Bestellung“ Die Preisträger des büchermenschen-Krimiwettbewerbs © März 2005
büchermenschen © der Einzelbeiträge bei den AutorInnen
Abschied
„Tja“, Norbert dachte nach und wiederholte die Frage, „wie sie war?“ Die Frau hinter der Ladentheke hielt den Kugelschreiber gezückt und sah ihn aufmerksam an. „Ruhig, eher ruhig, dabei zuweilen recht eigensinnig.“ „Mhm“ machte sein Gegenüber, nickte und schrieb das Gesagte auf. Hinter ihm ertönte sanft der Gong, und schon stand ein älteres Ehepaar, angetan mit zweifarbigen Wetterjacken, im Raum. Sie sahen sich in einer Mischung aus Scheu und Neugierde um. Norbert unterschrieb rasch den Auftrag, stellte die Tasche ab und verließ den Laden.
Er schlenderte gedankenverloren Richtung Friedrich -Wilhelm – Platz und besah sich die Schaufenster der Kaufhäuser. Wie viele Leute am Vormittag unterwegs waren. In der Kantine von Karstadt trank er einen Espresso und stieg anschließend in die U-Bahn. Einen Führerschein besaß er nicht und nun, wo Katrin und er endgültig getrennt waren, würde er wohl immer mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren müssen.
Sie wohnten sehr schön, man konnte über die Spree hinweg dem Innenministerium auf die verspiegelten Scheiben gucken. Hundertvierundzwanzig Quadratmeter, Stuckrosetten an den Decken und Eichenparkett, er würde die Wohnung vermissen. Norbert zog die Straßenschuhe aus und schlüpfte in seine Lederpantoffeln. Alles war aufgeräumt, nicht einmal eine Zeitung lag herum. Er ging in die Küche und setzte sich an den handgearbeiteten Kirschholztisch. So hatte er auch heute Morgen dagesessen, als es noch dunkel gewesen war und Katrin zugesehen, die ihr Butterhörnchen in den Milchkaffee stibbte.
„Wenn ich zurückkomme, bist du hier draußen.“
Er hatte geschwiegen, und so war nur das Hecheln der Hündin zu hören gewesen, die zwischen ihnen auf dem Boden lag. Nach dem Frühstück bückte sich Katrin zu dem Tier hinunter, nahm dessen Kopf zwischen ihre Hände und sagte:
„Und du, Lizzy-Schatz, wartest schön auf Mami, ja?“
Norbert hatte sich abgewandt, um nicht mitansehen zu müssen, wie sie ihr Gesicht im Fell des Hundes vergrub.
Nun saß er allein am Tisch und versuchte sich zu erinnern, wie sie sich von ihm verabschiedet hatte. Er wusste es nicht mehr. Ebenso wenig kannte er die Gründe, die zur Trennung geführt hatten, verstand nicht, warum sie ihn der Wohnung verwies. Er störte doch niemanden, war viel unterwegs oder saß am Schreibtisch über seinen Büchern. Häufig verfasste er Leserbriefe an Die Zeit und den Spiegel. Mitunter tauchte in einem der Blätter tatsächlich ein Text von ihm auf, allerdings meist so stark gekürzt, dass er es unerhört und sinnentstellend fand und sich nur mithilfe mehrerer Gläser Rotwein beruhigen konnte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er betrunken auf dem Sofa gelegen, als Katrin aus der Klinik gekommen war. Er wachte schließlich auf, als sie mit dem Hund redete, er selbst sprach selten mit dem Tier, vielmehr lenkte er es durch kurze Befehle.
Eine Woche nach Katrins Abreise kam eine Karte aus Oberitalien, und er erfuhr, dass sie sich sehr gut erhole und sie beide sicher den richtigen Schritt getan hätten. Norbert suchte ein Feuerzeug und verbrannte die Karte in der leuchtendblauen Schale, einem Geschenk von Katrins Exfreund Hinnerk, einem Keramiker aus Osterby im Schleswig-Holsteinischen. Dann begab er sich auf seine tägliche Runde durch Moabit.
Der Wind spielte mit dem Saum seines leichten Mantels. Er interessierte sich sehr für das Wetter, ein Thema, über das jeder Mensch mit jedem anderen ohne Umstände ins Gespräch kommen konnte. Dem aus den Medien entnommenen Wetterbericht traute er nicht, sondern stellte ihm stets eine eigene Prognose entgegen, glaubte er doch an eine besondere Wetterfühligkeit seinerseits. Heute hatte er sich geirrt, draußen war es genauso ungemütlich, wie gestern im Fernsehen vorausgesagt. Doch der aufkommende Nieselregen passte zu seiner schlechten Laune, denn er war am Morgen trotz mehrerer Ansätze nicht zum Höhepunkt gekommen. Schon zu lange befriedigte er sich selbst. Dabei hatte es eine andere Zeit gegeben in ihrer fünfzehnjährigen Beziehung, in der sie miteinander geschlafen hatten: zu ihren Studentenzeiten heftig und oft; bis Katrin AIP in der Klinik geworden war, häufig, nachdem sich Norbert ohne Erklärung exmatrikuliert hatte, immerhin noch an jedem Wochenende, in dem Jahr, als Katrin abgetrieben hatte, wie hätte sie einen Säugling mit der neu gewonnenen Position einer Stationsärztin vereinbaren sollen, nur noch alle paar Monate. Und dann nahte unerbittlich jener Sommer auf Lanzarote, wo sie ein idyllisch gelegenes Ferienhaus mieteten und während der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal Verkehr hatten. Norbert hatte es versucht, ihr die Hand auf die nackte Brust gelegt, die sie, wenn auch nicht unfreundlich, wieder wegschob. Ein andermal hatte er begonnen, ihre Pobacken zu streicheln, als sie sich bäuchlings auf der Terrasse sonnte. Sie stand einfach auf und ging ins Haus. Danach hatte er es aufgegeben.
Jetzt war sie weg. Wenn sie wiederkam, sollte er aus ihrem Leben verschwunden sein, und irgendwann würde ein anderer seinen Platz einnehmen. Männer mochten so eine blasse Schönheit mit naturroten Haaren. Norbert seufzte und nahm den Mantel vom Haken.
Er musste sich bewegen und begegnete allen, die das auch taten, um nicht verrückt zu werden oder es schon waren. Man erkannte sich auf den immer gleichen Strecken, er wunderte sich schon lange nicht mehr, dass der Typ mit dem karierten Jackett, der nicht wie ein Penner aussah, in den Papierkorb vor der Sparkasse guckte und manchmal kurz hineingriff, um eine Zeitung herauszuziehen. Wie oft war er versucht gewesen „Hallo“ zu sagen.
Als Norbert diesmal in die Wiclefstraße einbog, wäre er fast mit einer untersetzten, schwarz gekleideten Frau zusammengestoßen.
Sie kannten sich noch aus der Zeit, als beide siebzehn gewesen waren und in den gleichen Kneipen verkehrt hatten.
„Na, immer noch auf Mörderjagd?“
Wie konnte ein normaler Mensch bei der Kripo sein, wahrscheinlich war sie deshalb so fett, weil sie die ganzen Widersprüche dieses faschistoiden Systems in sich hineinfraß.
„Klar, und wem oder was jagst du nach?“
„Niemandem, ich bin frei!“ Damit setzte er sich wieder in Bewegung und ließ sie stehen.
Angelika Ratajczak sah Norbert hinterher. Egal, wie hochmütig er sich gab, musste er doch wissen, dass sie wusste, wie auch seine übrigen Bekannten und Freunde, dass er nicht viel mehr schaffte, als sich über Wetterprognosen aufzuregen, Leserbriefe zu verfassen und den Hund seiner Lebensabschnittsgefährtin auszuführen.
Nach drei Wochen hatte er seine persönliche Habe, vor allem Bücher und Kleidung, zu seinem Vater gebracht. Der Greis wohnte jenseits der Turmstraße, wo der Kiez nicht mehr schön war, und Norbert graute davor, wieder auf seiner Klappcouch aus Kindertagen schlafen zu müssen, bis er etwas Neues gefunden hatte. Das alles wegen Katrin. Er sah auf die Uhr, fünf, morgen um diese Zeit würde sie gut erholt aus dem Flugzeug steigen und ihn schon halb vergessen haben. Jetzt musste er aber los, wenn er den Hund noch vor Feierabend abholen wollte.
Dr. Katrin Weinert reichte den Zwanzig-Euro-Schein nach vorn:
„Der Rest ist für Sie.“
Der Taxifahrer bedankte sich, stieg aus und stellte ihr Gepäck auf den Bordstein. Katrin sah unschlüssig zur Fassade des Hauses Nummer 28 hoch. Es war eine gelungene Reise gewesen, sie hatten interessante Ausflüge in die Umgebung gemacht und eine Menge gesehen. Vor allem hatten Rolf und sie viel Zeit zusammen verbracht, und es war gut gegangen. Es würde auch weiter gutgehen mit ihnen. Bei diesem Mann wollte sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine spätere Ehe nicht ausschließen.
Während sich Katrin gegen die hohe Eingangstür stemmte, überkamen sie Zweifel. Ob Norbert sich an ihre Abmachung gehalten hatte und es endlich ausgestanden war zwischen ihnen? Vor der Wohnungstür zögerte sie zunächst, um dann erleichtert festzustellen, dass sie den Schlüssel zweimal umdrehen musste. Er war weg, er war tatsächlich weg! Sie trat ein, ließ die Koffer fallen und rief: „Lizzy, Lizzy, Mami ist wieder da!“ in die Diele.
Nichts rührte sich. Dieser Idiot hatte den Hund also mal wieder in die Küche gesperrt, bevor er gegangen war.
„Ab jetzt sind wir allein, Schatz, ist das nicht herrlich?“
Katrin riss beschwingt die Küchentür auf. Da saß ihre Lizzy, hoch aufgerichtet und sah ihr erwartungsvoll entgegen.
„Na, was ist, willst du nicht zu Mami kommen?“
Schon war sie bei dem Hund, fiel auf die Knie und umhalste das Tier.
Norbert stand auf der Straße und wartete. Es war nicht vergebens, denn jetzt kam er, der Aufschrei aus dem angeklappten Küchenfenster in der zweiten Etage. Er lächelte, faltete die Rechnung der Tierpräparatorin sorgfältig zusammen und ließ sie in die Innentasche seines Mantels gleiten, bevor er sich auf den Weg machte.